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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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mit unserem Latein am Ende.
    Nachdem ich meine Gedanken und Beobachtungen zu Simon in quälenden Stunden formuliert hatte, war nichts mehr wie zuvor.
    Das »Manifest« begann so:
    Gedanken zu Simon
    Wenn man Simons Fotoalbum anschaut, findet man für die ersten 2–2,5 Jahre kaum ein Bild, auf dem er nicht strahlt. So kam er uns auch von Anfang an vor: ein sonniges, fröhliches Kind. Er war ein guter Esser und bewegte sich gerne. Im Gegensatz zu seinem Bruder, bei dem sich früh ein ausgesprochenes Sprachvermögen abzeichnete, der aber in der motorischen Entwicklung hinterherhing, war er einer, der gerne krabbelte, balancierte und kletterte. War dabei aber wie sein Bruder vorsichtig und nie ein Draufgänger.
    Er war sehr körperbetont, anhänglich, viel auf meinem Schoß und an der Brust. Er wurde Tag und Nacht alle drei Stunden gestillt. Ab dem 7. Monat begann ich zuzufüttern, hatte ihn mit einem Jahr auch schon tagsüber entwöhnt, dann aber kam der Urlaub, er mochte die italienischen Gläschen nicht, am Strand war es unpraktisch etc., kurz, wir stillten weiter. Abgestillt hat er sich selbst dann mit zwei Jahren. Die Affinität zu meiner Brust blieb groß, und eigentlich wollte er sie bis vor wenigen Wochen immer wieder anfassen, mit den Lippen berühren oder kneifen. Auch sein Bedürfnis nach Hautkontakt ist nach wie vor groß, er schmust viel und sucht während des Teils der Nacht, den er bei uns verbringt, meist ab 4 Uhr früh, die nackte Haut.
    Im ersten Jahr zeigte er auch, für uns ungewohnt, Tendenzen, Dinge selbst tun zu wollen. Das verlor sich aber irgendwann.
    So ging das über fast zehn Seiten. Ich war akribisch, ich war beherrscht, nicht übermäßig gefühlig. Was hatten wir für eine Angst, die Sache zu übertreiben, vor allem, was unsere Empfindungen, unsere Reaktionen auf Simon anging. Dabei waren wir übermüdet, verzweifelt, am Ende. Und trauten doch unserem eigenen Zustand nicht.
    Es war ein seltsames Gefühl, diesen Text Jahre später während der Arbeit an diesem Buch wieder zu lesen. Da waren so viele Sachen, die ich vergessen hatte: Zum Beispiel dass es zwei Jungen waren, die Simon im Kindergarten so rührend betreut hatten; ich hatte mich bis dahin nur an einen erinnert. Dass es den »Darf ich?«-Terror jemals gegeben hatte. Dass meine Eltern mal ein weißes Auto fuhren, in das Simon immer einsteigen wollte. Fremd und vergessen war auch, dass wir einmal die Vermutung gehegt hatten, Simon könne unter Mutismus leiden. Das Schreiben für die Ärztin endete nämlich folgendermaßen:
    Mein Mann recherchierte im Internet und fand die Beschreibung eines Phänomens, das auf Simon, wie wir meinen, in vielen Teilen passt: selektiver Mutismus.
    1) Er spricht nur mit der Familie (Vater, Mutter, Bruder, Großeltern), Frau Viera und seinem 14-jährigen Babysitter Helen. Mit anderen gar nicht oder nur im Flüsterton, »ja« oder »nein«.
    2) Auch dass es eine Angststörung sein soll, passt unserer Ansicht nach zu seinen Ticks, seinem Kontrollwahn, seiner Verhaftetheit an Ritualen.
    3) Selektiver Mutismus soll erblich disponiert sein; mein Mann sprach zwischen drei und vier Jahren im Kindergarten kein Wort.
    4) Zweisprachigkeit soll die Störung verstärken; Simon war zwei Jahre bei einer portugiesischsprachigen Tagesmutter.
    Mutismus ist, kurz gesagt, die Unfähigkeit, Fremden gegenüber laut zu sprechen, obwohl man es bei vertrauten Personen kann. Uns erschien der Mutismus-Verdacht logisch: Bei Simons Vater war das Ganze ja auch mit dem Eintritt in den Kindergarten aufgetreten, aber nach nur einem Jahr wie ein Spuk wieder verschwunden. Die Kindergärtnerin hatte ihn eines Tages gefragt: »Welchen Stift willst du denn nehmen?« Er hatte flüsternd geantwortet: »den gelben«, und durchs Dorf war wie ein Lauffeuer die Nachricht gegangen, dass das Kind wieder spricht. Alles war wieder gut. Auch bei Simon hofften wir auf so einen erlösenden Moment, auf den Augenblick, an dem dieser Alptraum vorbei sein würde. Dennoch war eine mögliche Mutismus-Diagnose für uns eine Schreckensvision: ein schüchternes Nichtsprecherkind, in der Schule benachteiligt, von allen verkannt, jahrelang in Therapie. Aber wenn ich heute darüber nachdenke: Mutismus ist eine Störung, die in den meisten Fällen mit der Pubertät verschwindet, gut behandelbar und mit nichts als ein paar

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