Ich muss Sie küssen, Miss Dove
abgelehnt hatte; verärgert über die Welt, weil Emma sich keine Smaragde leisten konnte; verärgert über die Tatsache, dass sie so viel Schokolade essen konnte wie sie wollte, und trotzdem keinen größeren Busen bekam; verärgert über das Schicksal, weil sie nicht mehr jung und niemals schön gewesen war. Lächerlich.
Dreißig ist nicht alt.
Wenn Emma ihre Lebensumstände betrachtete, musste sie zugeben, dass ihr großes Glück zuteil geworden war. Eine unverheiratete, moralisch gefestigte Frau ohne Familie hatte nur wenige Möglichkeiten. Im Gegensatz zu den armen Mädchen, die wie Sklavinnen in Streichholzfabriken schufteten, waren Emmas Aufgaben herausfordernd, interessant und gaben ihr oft die Gelegenheit, ihren Verstand und ihren Einfallsreichtum auszuprobieren. Am meisten jedoch wünschte sie sich, eine veröffentlichte Schriftstellerin zu werden - und ihr Arbeitgeber war Verleger. Daher ruhte auf dem Viscount Emmas ganze Hoffnung, ihre Bücher eines Tages gedruckt zu sehen.
Wie die von ihr geschaffene literarische Figur Mrs. Bartleby wohl gesagt hätte - eine Frau von wahrhaft edler Gesinnung muss ertragen, was auf sie zukommt, und das mit Anmut. Resigniert seufzend reichte Emma Miss Bordeaux ein frisches Taschentuch.
Harry hatte sich verspätet. Das kam selten vor, allerdings nicht, weil Harry von Haus aus ein pünktlicher Mensch gewesen wäre. Im Gegenteil, er war dafür bekannt, der zerstreuteste Mensch der Welt zu sein, wenn es um Uhrzeiten und Termine ging. Bloß hatte er gleichzeitig auch die tüchtigste Sekretärin in ganz London. Normalerweise verwaltete Miss Dove seinen Terminkalender mit der größtmöglichen Zuverlässigkeit.
In diesem Fall konnte man Miss Dove tatsächlich auch keinerlei Vorwurf machen. Harry hatte am Nachmittag den Earl of Barringer vor dem Lloyd's getroffen und die Gelegenheit genutzt, um wieder einmal das Aufkaufen von Barringers Social Gazette zur Sprache zu bringen. Harry wusste, der Earl war bankrott und seine finanzielle Lage bedrohlich. Trotzdem sträubte Barringer sich zu verkaufen, denn er hielt seinen Verlag für wesentlich niveauvoller als den von Harry und sich selbst für etwas Besseres. Er hatte auch gegen Harrys Scheidungsabsichten im Oberhaus des englischen Parlaments protestiert und sich dort lang und breit über die Heiligkeit des Ehestandes ausgelassen.
Trotz ihrer gegenseitigen Abneigung war es den beiden Männern gelungen, den ganzen Nachmittag lang einigermaßen zivilisiert über einen möglichen Verkauf zu diskutieren, obwohl sie zum Schluss doch keine Einigung hatten erzielen können.
Harry liebte es, Geschäfte zu machen und Geld zu verdienen. Für ihn waren Geschäfte ein Kinderspiel, das ihn aufheiterte und beschwingt machte. Außerdem warfen sie weitaus mehr Profit ab als sein Titel und sein Besitz; von solchen Dingen konnte ein Adeliger in diesen Zeiten kaum noch leben. Die Herausforderung, Barringer dazu zu bewegen, ihm die Gazette für weniger als die verlangte, horrende Summe von hunderttausend Pfund zu veräußern, hatte jeden anderen Gedanken aus Harrys Kopf verdrängt. Wenn der Earl ihre Unterhaltung nicht beendet hätte, indem er verkündete, er wollte an diesem Abend in die Oper gehen, hätte Harry womöglich Phoebes einundzwanzigsten Geburtstag vergessen, und dann wäre der Teufel los gewesen.
Er war schon ausgestiegen, noch ehe die Mietdroschke vor dem Verlagsgebäude von Marlowe Publishing vollends zum Stehen gekommen war. „Warten Sie hier", rief er dem Kutscher über die Schulter hinweg zu, während er zum Eingang eilte. Er schloss die Tür auf und lief auf die Treppe zu. Auch im Dunklen war ihm der Weg wohlvertraut, und er nahm immer gleich zwei Stufen auf einmal.
Im obersten Stock angekommen, sah er, dass in seinen eigenen Büroräumen noch Gaslicht brannte, und er hörte das rasante Klappern einer Schreibmaschine. Miss Dove war also noch da: eine Tatsache, die Harry nicht im Mindesten erstaunte. Es war ihm schon immer so vorkommen, als habe Miss Dove außerhalb der Mauern von Marlowe Publishing kein eigenes Leben.
Sie hörte auf zu tippen und sah auf, als er das Büro betrat. Jeder andere Angestellte hätte sich gewundert, ihn zu so einer späten Stunde noch im Büro zu sehen, nicht aber seine stets gelassene Sekretärin. Sie zuckte mit keiner Wimper. „Mylord", grüßte sie und erhob sich.
„Miss Dove", gab er zurück. „Sind die Verträge für den Kauf der Halliday-Papierfabrik schon eingetroffen?"
„Nein,
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