Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
mutig aufzutreten. Dr. Hettich untersagte mir, mich irgendwie durch die Menge zu lavieren, unauffällig bleiben zu wollen und wegzuschleichen. Ich sollte auffallen, sogar mit Blicken provozieren, um meine und die Reaktionen der Passanten zu testen.
So stand ich am Freitag um 13 Uhr unter dem Kröpcke und wartete, was mit mir geschehen würde, ähnlich wie Bruce Willis im Blockbuster »Stirb langsam – jetzt erst recht«. In diesem Film droht ein Polizist damit, eine Schule in die Luft zu jagen, sollte McClane seine Rätsel nicht lösen können. Seine erste Aufgabe führt ihn ins Ghetto von Harlem, wo er sich als Sandwichmann mit einem Schild mit der Aufschrift »I hate niggers« präsentieren soll. Was naturgegeben für Reaktionen sorgt. Ich war gespannt, wie man auf mich reagieren würde. Ich hoffte, dass Dr. Hettich irgendwie in meiner Nähe war. Man wusste nie, schließlich sollte ich die Aufgabe ja selbst lösen. Und das wollte ich auch. Wenn ich hier bestehen würde, ohne in Panik zu geraten, dann hätte ich die Prüfung bestanden und wäre erlöst und bereit für die neue Freiheit, die ich mir sehnlichst gewünscht und so unendlich vermisst habe.
Es passierte – nichts! Der einzige Mensch, der mich erkannte und mich ansprach, war Dr. Hettich als er mich gut gelaunt fragte, was ich davon halten würde, wenn wir noch gemeinsam bei der Sparkassenfiliale am Raschplatz vorbeigehen würden, da musste ich allerdings passen. Die Vorstellung, schon jetzt auf meine Arbeitskollegen zu treffen, schien mir dann doch ein bisschen zu viel des Guten. Es herrschte um diese Zeit ein reger Betrieb, da viele Feierabend hatten, und außerdem belastete mich, dass ich noch krankgeschrieben war und jetzt plötzlich auf der Straße gesehen würde. So ganz frei war ich halt doch noch nicht davon, was andere Menschen von mir denken würden. Dr. Hettich beruhigte mich sogleich, dass es kein Zeichen von Schwäche sei oder meiner Krankheit, sondern als ein Zeichen für Anstand völlig nachvollziehbar – er hätte sich in ähnlicher Situation auch so verhalten. Somit beschlossen wir, noch ein wenig durch die Stadt zu spazieren, und damit hatte ich meinen »Gesellschafts-TÜV«, wie ich es bezeichnen möchte, erfolgreich bestanden.
Patientenbericht Nr. 7, Babak Rafati, Dr. Hettich
In der Einzeltherapie erarbeiteten wir eine sogenannte Angsthierarchie mit einer Skala von 0 bis 100 %, wobei 0 % keiner Angst entsprach und 100 % maximale Angst bedeutete. Während er den Kontakt mit Mitpatienten nur wenig fürchtete, löste der Gedanke, sich im Zentrum Hannovers aufhalten zu müssen, geradezu Panik aus, so sehr hatte er Angst vor den negativen Bewertungen durch andere Menschen. Als ich mich am letzten Tag der stationären Behandlung mit Herrn Rafati zu einer Angstexposition am Kröpke im Zentrum Hannovers traf und wir gemeinsam zur Mittagszeit durch die Bahnhofspassage gingen, hatte sich durch die Therapie die Angst- und Schamsymptomatik bereits so weit gebessert, dass es ihm nicht mehr wichtig war, was andere Menschen über ihn dachten, woraufhin er mich spontan zu einem Glas Champagner einlud, zur Feier der gelungenen Therapie. Am 07.02.2012 konnte Herr Rafati geheilt aus der stationären Behandlung entlassen werden.
Über ein halbes Jahr führten wir in größeren Abständen ambulante Nachsorgeuntersuchungen durch, ohne dass sich dabei Hinweise auf einen Rückfall in die depressive Symptomatik zeigten. Wir reduzierten daher schrittweise die antidepressive Medikation und konnten sie nach einem halben Jahr absetzen. Dass es zu einer so nachhaltigen Besserung der Depression gekommen war, ist meines Erachtens darauf zurückzuführen, dass Herr Rafati seine Lebenseinstellungen, die ihn unter Druck gesetzt hatten, korrigieren konnte und sein Leben neu entdeckten Werten entsprechend ausrichtete. Er hatte gelernt, achtsam wahrzunehmen, was für ihn wirklich wichtig ist.
An meinem letzten Tag war ich natürlich glücklich, die Klinik endlich verlassen zu dürfen, aber gleichzeitig auch voller Wehmut, denn meine Frau und ich hatten das Personal dermaßen ins Herz geschlossen, dass auch Tränen flossen. Wir wurden von allen in den Arm genommen und wir mochten uns gar nicht wieder loslassen.
An diesem Ort war mir das Leben zurückgeschenkt worden oder besser, man hatte mich in allem gefördert und motiviert, dass ich es mir selbst zurückerobern konnte. Immer war ich respektvoll und voller Verständnis behandelt worden, egal, wie schwierig mein
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