Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
Stabilität nach und nach zurückerlangt und dass in meiner Seele ein Neuordnungsprozess stattgefunden hatte. Dr. Hettich hatte mich aber immer wieder warnend darauf hingewiesen, dass die Gefühlskurve bei dieser Krankheit starken Schwankungen ausgesetzt ist. Deshalb sollte man nicht zu euphorisch auf diese Anfangserfolge reagieren und immer mit Rückschlägen rechnen – sich aber immer bewusst sein, dass nach einem vorübergehenden Tief auch wieder ein Hoch folgt.
Ich entschied mich nach Absprache mit der Familie und Dr. Hettich, den Klinikaufenthalt freiwillig um ein paar Tage zu verlängern, damit mein seelischer Akku absolut aufgeladen war, wenn ich wieder in meiner alten Umgebung bestehen müsste. Ich wollte unter allen Umständen einen Rückfall vermeiden, hatte ich das doch selbst dreimal in der vorigen Klinik erlebt und auch während der vergangenen Wochen immer wieder von Patienten geschildert bekommen, denen Ähnliches wiederfahren war. Ich wollte mir sicher sein – auch wenn wir nicht mehr abwarten konnten endlich zusammen den Abend zu beenden und Arm in Arm im gemeinsamen Bett einzuschlafen.
Es war nicht mehr der Rafati der letzten Wochen und Monate, sondern der, der mir morgens ohne Ringe unter den Augen, mit einer guten Gesichtsfarbe ernst, aber aus klaren Augen entgegenblickte. Der »Zombie«, der mich im Kölner Hotel zu Tode erschreckt hatte, war erledigt. Ich konnte wieder in den Spiegel schauen, ohne meine ganze Angst und Verzweiflung in einem eisgrauen Gesicht lesen zu müssen. Mein Gang war wieder aufrecht und meine Körperspannung wieder da, ich hatte mein altes Körpergefühl der Stärke zurückerhalten. Dieser Eindruck, dass ich wieder der Alte war, wurde mir von vielen Leuten, die mich nach längerer Zeit wiedersahen, erfreut bestätigt. Doch der Eindruck war falsch – ich war nicht mehr der Alte. Der alte Babak war krank geworden, weil er sich für unkaputtbar hielt und über lange Zeit nicht merkte, wie er sich völlig verausgabte, den falschen Zielen hinterherlief und schließlich sein Ich verlor. Dieser Babak war ein Teil von mir und meiner Lebensgeschichte – aber der Teil, den ich für das Leben, wie ich es plante, nicht mehr so häufig sehen wollte.
Dr. Hettich kündigte an, er wolle als Abschluss meines Klinikaufenthaltes einen sehr anspruchsvollen Test unternehmen. Gespannt kam ich in sein Büro. Dort schlug er einen Bogen auf seiner Flipchart auf, den ich zu gut kannte. Es war die »Hitparade der Orte des Schreckens«, die ich mit ihm am Anfang der Therapie ausgearbeitet hatte. Der Hauptbahnhof und der Kröpcke. Ich hatte diesen Platz deshalb als meine »No-Go-Area« an Platz eins der Liste gesetzt, weil ich wegen der Nähe zu meinem Arbeitsplatz in der Bankzentrale der Sparkasse und den vielen Fußballfans keine Chance gehabt hätte, auch nur zehn Meter unerkannt über den Platz zu gehen. Der Kröpcke in der Nähe des Hauptbahnhofs ist der zentrale Platz Hannovers, umrahmt von Kaufhäusern, an der Kreuzung von Georgstraße, Karmarschstraße, Bahnhofstraße und Rathenaustraße. Der Kröpcke ist der beliebteste Treffpunkt in der großräumigen Fußgängerzone: Hier befindet sich das nach der Besitzerfamilie benannte »Cafehaus am Kröpcke« und die berühmte Kröpcke-Uhr, ein Wahrzeichen Hannovers. Unter dem Kröpcke befindet sich auch noch die größte Station der Stadtbahn Hannover. Im Sommer sieht man hier die schönsten Mädchen der Stadt – und tausende Fußballfans, wenn es bei Hannover 96 ein Fußballfest zu feiern gibt. Wenn es also irgendwo in Deutschland damals einen Platz gab, auf dem ich aus Scham und Angst vor Entdeckung gestorben wäre – außer dem Mittelanstoß in einer ausverkauften Arena –, dann war das der Kröpcke.
Dr. Hettich blickte mich an und sagte: »Herr Rafati, Freitag 13 Uhr, Treffpunkt Kröpcke!« Der zweite Teil der Aufgabe war, dass ich mich dort für zehn Minuten mitten in die Menschenmassen unter der Kröpcke-Uhr stellen sollte, ohne Kapuze, Sonnenbrille und sonstige Mittel der Tarnung, also nicht Rocky, sondern als Rafati, sodass alle Menschen mich sehen und vielleicht auch einige ansprechen würden. Der dritte Teil bestand darin, nicht den Blick abzuwenden, wenn mich Menschen mit dem »Den-kenne-ich-doch?«-Blick taxierten, sondern sogar den Blickkontakt völlig fremder Menschen zum Beispiel auf der Rolltreppe im Kröpcke-Center zu suchen. Ich sollte lernen, nicht defensiv-ängstlich zu sein – sondern offen und vor allem offensiv, also
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