Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
Energiereserven angriff.
Zu den Sorgen um meine Verletzung und meine Zukunft als Schiedsrichter unter den geänderten Machtverhältnissen addierte sich der Stress, da ich als Torrichter für internationale Spiele nominiert wurde und somit noch viel häufiger unterwegs sein würde. Zu den Wochenendspielen in der Bundesliga mit zwei Tagen kamen nun noch drei Tage in der Woche im Ausland hinzu. Deshalb war man berechtigterweise am folgenden Montag nicht begeistert, als ich mich wegen meiner Verletzung zusätzlich krank meldete. Ich setzte mich unter enormen Druck, denn ich wollte auf keinen Fall die Anforderungen und Erwartungen meiner Vorgesetzten enttäuschen. Die Kollegen und Vorgesetzten hatten mir ohnehin schon sehr viel Verständnis für meine Schiedsrichtertätigkeit entgegengebracht. Mit meinem Chef hatte ich eine sehr großzügige Vereinbarung getroffen, die half, die Doppelbelastung aus Arbeit und Sport zu koordinieren. Obwohl ich durchschnittlich nur 60 Prozent meiner Dienstzeit anwesend war, hatte ich als Filialleiter eine 100 prozentige Zielvereinbarung für ein definiertes Umsatzziel wie alle anderen Mitarbeiter auch, die Vollzeit arbeiteten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Leistungsziele trotz meiner Halbtagsarbeit in der Sparkasse immer überschritten. Ich war gut. Aber manchmal saß ich eben bis in den späten Abend am Schreibtisch, um meine Akten aufzuarbeiten. Auch in den wenigen freien Minuten am Wochenende.
Daher beschloss ich meine Arbeitszeit für zwei Jahre zu reduzieren, um mehr Zeit und Kraft in den Fußball investieren zu können. Mit meinen Vorgesetzten vereinbarte ich, dass ich vorläufig in eine Fachabteilung wechsele, damit ich den Anforderungen des Fußballs gerecht werde, und später wieder in meine alte Tätigkeit zurückkehren kann. Man hatte mir auch immer wieder in der Sparkasse signalisiert, dass man mich nach der sportlichen Karriere gerne in höheren Positionen sehen würde.
Die Doppelbelastung ist einer der größten Stressfaktoren im System Schiedsrichter. Schiedsrichter sollen und müssen ein zweites berufliches Standbein haben. Allein schon weil das Alter biologische Grenzen für die körperliche Leistungsfähigkeit setzt und bei einem verletzungsbedingten Ausscheiden Arbeitslosigkeit droht, darf man sein gesichertes Einkommen im erlernten Beruf nicht aufgeben. In den unteren Klassen ist der zeitliche Aufwand noch nebenbei an den Wochenenden zu bewältigen. In der Profiliga stellt sich das ganz anders dar. Das »Hobby« Schiedsrichter wird zum zweiten Beruf, der zunehmend in zeitliche Konkurrenz mit der bisher ausgeübten Arbeit tritt.
Das Private bleibt zuerst auf der Strecke. Wenn ich abends nach Beruf und Training oder einem Spiel nach Hause kam, war ich einfach alle. Ich hatte kaum noch Zeit für meine Freundin Rouja und für meine Familie. Auch Freunde sah ich immer seltener und schlimmer noch: Ich merkte zunächst gar nicht, dass es so war. Es ist ein Spagat, bei dem der Abstand zwischen den Füßen umso schneller breiter wird, je höher man aufsteigt. Die Erholungspausen für Körper und Seele werden immer kürzer. Der Körper muss funktionieren und wird gnadenlos ausgebeutet.
Selbst wenn ich schwer grippekrank war, ging ich zur Arbeit. Ich konnte die wenige Zeit, die ich wegen der Spielbefreiungen noch in der Filiale war, nicht auch noch fehlen. Als Filialleiter hatte ich eine Vorbildfunktion und wollte meine Glaubwürdigkeit bei meinen Arbeitskollegen nicht infrage stellen lassen. Es wäre einfach ganz schlecht angekommen, wenn sie mich nach meiner Krankmeldung unter der Woche schon tags darauf in der Samstags-Sportschau wieder übers Spielfeld hätten laufen sehen. Genauso wenig konnte ich am Montag nach dem Spiel fehlen, selbst wenn ich völlig ausgelaugt war nach den physischen Anstrengungen des Spiels mit seinen psychischen Belastungen und ich auch wegen der Reisestrapazen dringend Zeit zur Regenerierung benötigt hätte. Ich hatte keine Pausen mehr. Zeitmanagement wurde für mich zu einer Obsession. Der Kalender, meine Uhr und der ständige Drang zur Zeitoptimierung übernahmen die Regie über mein Leben. Jede Minute war verplant. Einfach mal richtig abhängen – oder wie man heute sagt »die Seele baumeln lassen« – war gestrichen, kam für mich nicht infrage. Jede Sekunde wurde auf Auslastung und Effizienz getrimmt.
Wie ich das alles zeitlich in den Griff bekam, kann ich selbst dann nicht mehr rekonstruieren, wenn ich meine alten Terminkalender
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