Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
Stoppuhr, mein DFB-Anzug, den wir zu den Spielen tragen müssen, der einheitlich für alle ist, ein Oberhemd mit dem Schriftzug des Werbeträgers, der DEKRA, auf dem Kragen und private Kleidung. Ich war ja immer sehr korrekt, sodass ich nach dem Packen noch einmal zwecks Kontrolle von den Fußspitzen bis zum Kopf alles imaginär durchging, um zu gewährleisten, dass ich nichts vergessen hatte. Immer dabei: ein Talisman an einer Kette aus Gold, den ich als Kind von meiner Mutter geschenkt bekommen hatte, um mich in schlechten Zeiten zu beschützen.
Ich zog die Kette unter meinem Kinn hervor und schaute auf meinen Talisman. In dieser Nacht und für das Spiel morgen konnte ich jeden Schutz noch gut brauchen. Das Trikot hatte ich schon herausgelegt. Ich starrte darauf wie auf etwas Fremdes. Ich würde es nicht mehr anziehen. Ich sah mich nicht mehr in der Lage, den Anspruch auszufüllen, den dieses Trikot symbolisierte, nämlich ein Bundesligaspiel zu leiten und Respekt von den Spielern einzufordern.
Jahrelang hatte ich jede Sekunde sehnsüchtig auf die großen Fußballspiele hingelebt und mich auf jedes Spiel gefreut. 84 Bundesligaspiele hatte ich geleitet, 2008 kam der Sprung in den internationalen Fußball, ich wurde FIFA-Schiedsrichter. Ich war einer von zehn. Top Ten. Ich war ganz oben. Mein Leben verging auf Flughäfen, in Flugzeugen, in Hotels, Bussen und ICEs und Limousinen des VIP-Fahrservices. Immer volles Tempo. Ich war Teil des Bundesliga-Jetsets. Morgens 6:00 Uhr Lauftraining, 8:00 Uhr ab zur Arbeit, direkt von der Arbeit zum Flughafen, abends Hotel, drei Tage andere Länder, andere Menschen, drei Tage andere Kulturen, andere Sprachen, Leistung abrufen und am Montag ohne Stopp zurück an meinen Schreibtisch in der Bank. Ich weiß nicht mehr, was ich in dieser Zeit gedacht, gefühlt oder geträumt habe. Es kamen laufend jede Menge neue Eindrücke, neue Reize, und ich hatte keine Zeit, die alten zu verarbeiten und zu speichern. Es war nie so, dass ich unter meinem neuen Lebens gelitten hätte: Nein, ich war süchtig danach und konnte nicht genug davon bekommen, unterwegs zu sein. Ich führte das Leben eines Mr. Perfect. Wenn ich es genau überlege, habe ich mein ganzes Leben dem Ziel geopfert, an die Spitze zu kommen und genau hier, in diesem Zustand zu landen.
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Mit zehn Jahren stand ich zum ersten Mal mit Trikot und Stollenschuhen auf dem Fußballplatz. Ein Schulfreund hatte mich gefragt, ob ich nicht mal zum Training mitkommen wollte. In meiner Familie war Fußball kein Thema. Und würde es nie werden. Meinen Vater interessiert Fußball bis heute nicht – selbst als ich meine ersten Spiele in der Bundesliga pfiff, machte er nicht einmal den Fernseher an. Fußball war fern seiner Lebenswelten. Ich hingegen hatte mit dem Fußball schnell etwas entdeckt, was mir viel Spaß machte und mir eine Chance bot, viele Freunde und Anerkennung zu erwerben. Der Fußballclub wurde meine neue Familie. In jeder freien Minute war ich dort und spielte. Und tatsächlich sollten sich bald Aufstiegschancen ergeben.
Über die Kreisliga stieg ich auf in die Bezirksliga, zunächst als Mittelstürmer, später als Manndecker. Ich war mit allen Wassern gewaschen und kannte bald alle Tricks, wie man einen Gegner ausschaltet, wenn der Schiedsrichter nicht hinguckt. Ich verrate hier keine Geheimnisse, wenn ich sage, dass jeder Spieler manchmal auch strategische Fouls einsetzt, um dem Gegner ein Zeichen zu setzen, nach dem Motto »Hey, mit mir nicht – ich bin hier der Stärkere«. Zum Beispiel ihn ganz harmlos am Trikot festhalten oder ihn einfach etwas fragen, irgendwo hindeuten, kurz bevor das Abspiel kommt. Banal und einfach – funktioniert aber wunderbar. Den Gegner abzulenken verhindert, dass er Spielzüge antizipieren kann. Zudem nutzt man selbst diesen Sekundenvorteil, um schneller an den Ball zu kommen.
Auf dem Platz hatte ich dieses Killergen und den unbedingten Willen zum Sieg, das habe ich aber immer auf dem Spielfeld zurückgelassen. Sobald der Schlusspfiff kam, war ich wieder voll im Harmoniemodus und konnte Streit nicht ertragen. Das eine war der sportliche Wettkampf, in den ich mit allen Mitteln reinging, die im Rahmen waren, wo ich zu gewinnen versuchte – das ist legitim und der Charakter des Spiels –, das andere aber war danach, da war der eigentliche Babak, süchtig nach Harmonie, immer einen flotten Spruch auf den Lippen, ein freundliches Lächeln. Probleme habe ich stets auf dem Platz gelöst
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