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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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und das sei ja wohl keine Öffentlichkeit.
    Doch, ja, allerdings, selbstverständlich, Öffentlichkeit beginne ganz klar und genau außerhalb einer Person, also bei zweien, insistiert Schnatz.
    Nein, kann nicht sein, niemals, beharre ich, und wenn doch, tät’s mir leid, die Sorte Öffentlichkeit sei mir nicht geläufig, ich sei im Grunde ein öffentlichkeitsscheuer Mensch, aber wenn das schon Öffentlichkeit sei, dann, bitteschön, sei das eine mir unbekannte Mikrostruktur von Öffentlichkeit.
    Auf Ausflüchte wie die ist Schnatz bestens vorbereitet. Erstreicht sich mit der Faust über die Halbglatze. Wie es dann möglich sei, fragt er mich fast höhnisch und vorwurfsvoll, daß sogar sie, die Stasi, Kenntnis von diesen Gedichten habe erlangen müssen? Wie denn die Gedichte überall herumkursieren könnten, wenn ich sie angeblich niemandem gegeben hätte?
    Vielleicht war das der Punkt in dem Verhör, wo ich spürte, daß die Stasi auf Unterstellungen angewiesen war, daß sie mir nur etwas unterstellen konnte, mehr nicht. Daß sie nichts in der Hand hatte. Oder nicht viel. Und unterstellen, das konnte ich auch.
    Keine Ahnung, sage ich, ich sähe da nur eine Erklärung, sie müssten mir gestohlen worden sein, von wem auch immer. Ob er, Genosse Oberleutnant, das nicht herausfinden könne?
    Wie Öffentlichkeit zustande komme, belehrt mich daraufhin Schnatz, sei völlig irrelevant, ich sei verantwortlich, und ich hätte auch die Konsequenzen, alle Konsequenzen zu tragen, wenn ich nicht die nötige Sorgfalt beim Umgang mit derartigen Texten walten lasse.
    »Wie Öffentlichkeit zustande kommt, ist völlig irrelevant?« frage ich nach.
    »Allerdings, absolut irrelevant!« bekräftigt Schnatz.
    »Dann«, stelle ich fest, »hätte ich die Gedichte ja auch selber verbreiten können.«

    Ich sehe ihn wieder vor mir: Schnatz, aufgebracht und wütend und sauer, immer wieder nervös mit der Faust über die Halbglatze streichend. Er lenkt das Gespräch jetzt auf die eigentlichen »verbrecherischen Handlungen«, die Gedichte, und die Unterhaltung driftet schnell ab in lyrik-interne, poetologische Filigranbereiche. Es geht um Versformen und -füße und die paradoxale Semantik des Offensichtlichen.
    Mein Standpunkt ist, daß das Gesagte dadurch, daß es gesagt wird, gerade nicht gesagt ist. Gedichte, erkläre ich, bedeutetennie das, was sie bedeuteten, andernfalls wären sie keine Gedichte. Dem Oberleutnant will das nicht einleuchten. Er interessiert sich mehr dafür, wer gemeint sei mit den »dummen Schweinen in allerhöchsten Positionen«. Gute Frage. Niemand, antworte ich ausweichend, ich wüßte keinen. Denn mit der letzten Zeile hätte ich ja alles, was davorsteht, für null und nichtig erklärt. Im Grunde sei das, was ich geschrieben habe, eher eine Kritik an der Kritik, Selbstkritik, Kritikkritik.
    Schnatz, rechts und links sekundiert von zwei weiteren Lyrikspezialisten, läßt nicht locker. Verleumdung, Diffamierung, Herabwürdigung, strafrechtlich relevante Verächtlichmachung. Was »dumme Schweine« denn anderes sein sollten als das, was »dumme Schweine« eben seien?
    Ich baue eine neue Verteidigungslinie auf: den Konjunktiv. »Würde« würde da stehen. Ich sei, darum gehe bei mir alles, Konjunktiv-Fan. Deshalb hätte ich die Zeilen um dieses Wort »würde« praktisch herumgebaut. Dichter machten das öfter. Manche schrieben ein ganzes Drama, nur um ein einziges Wort zu sagen.
    »Dieser Schiller zum Beispiel …«
    »Schiller? Frank Schiller aus der 102. Kompanie?« wirft Schnatz ein, wild mit der Faust über die Halbglatze reibend. Es sieht ganz so aus, als wolle er mit dieser albernen Technik da oben ein Feuer anfachen.
    »Fritz«, sage ich, »Friedrich – Friedrich Schiller hat sein Drama ›Die Räuber‹ auch nur geschrieben, damit er dort ein einziges, ganz bestimmtes Wort unterbringen kann.«
    »Welches?« will Schnatz wissen.
    »Sie dürfen es nicht mir anlasten … Das ist auf Schillers Mist gewachsen.«
    »Das Wort!« beharrt Schnatz.
    »Kastratenjahrhundert.«
    Schnatz schreit beinahe auf. »Das werden Sie bereuen«, rufter, die Faust auf seiner Glatze ballend, aus. »Wir werden das sehr, sehr gründlich prüfen, ob das wirklich da steht, bei Ihrem Schiller, und wenn nicht, dann können Sie sich auf etwas gefaßt machen.«

    Natürlich gelingt mir nicht, die Leute von meinen unabsichtlichen Absichten zu überzeugen. Doch von Straftat und Freiheitsentzug ist plötzlich keine Rede mehr. Ich werde belehrt, streng

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