Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
verwendeten – ein Hauch von Heimat weht mich an aus den monströsen Unterlagen. Irgendwer muß das ja alles getippt und wieder abgetippt, geprüft, gestempelt, gegengezeichnet und »f.d.R.d.A«, für die Richtigkeit der Angaben, unterschrieben haben: Sekretärinnen, Tippkolonnen, unterirdische Schreibabteilungen des MfS. All die »Aktenvermerke«, »Abschriften«, »Auszug Speicher«, »Ermittlungsberichte«, »operative Wertungen«, »mdl. Informationen« – was für eine Arbeit, welch trivialer Krempel, was für eine besinnungslose Vervielfältigung von nichts.
In die Psyche der Sekretärinnen will ich mich lieber nicht hineinversetzen. Sie muß von heroischer Selbstabgewandtheit geprägt gewesen sein. Kaum vorstellbar, daß sie während ihrer mühseligen Arbeit launige Bemerkungen machten, schäkerten oder auch nur vor sich hin murmelten. Fast möchte man hoffen, daß sie aus Überdruß oder in einem anarchistischen Akt sich kleine Späße beim Abschreiben geleistet hätten. »W. steht zwei Stunden in Spreewaldtracht auf einem Bein …« Oder: »Meditiert exzessiv über einem Autogramm von Margot Honecker.« Eine Übertreibung hier, eine phantastische Verdrehung da, und diese zähen, einförmigen Berichterstattungen wären gleich viel spannender.
Zum Zeitpunkt des Beginns der »operativen Maßnahmen«, Anfang der Achtziger, bin ich gerade sechzehn Jahre alt. Im frühen Vogel steckt der Wurm. Warum die Observation nicht bereits nach der Geburt im Kindergarten beginnt, geht aus den Akten nicht hervor.
Die Stasi beobachtet mich zunächst, weil sie mich für ihr Berliner Wachregiment »Felix Djerschinski« anwerben will, eine Armee-Einheit für die ganz Treuen, unterstellt dem MfS, zuständig für Spezialaufgaben. Beworben habe ich mich dafür nicht und weiß auch nicht, daß geworben wird. Das ergibt sich offenbar von selbst, inklusive Überwachung, Postkontrolle, Befragung hier, Einschätzung da. Reine Routine.
»Aufgrund von Strukturveränderungen« ändert sich jedoch der Plan, und man geht direkt dazu über, »feindl. negative und herabsetzende Äußerungen« zu unterbinden.
Ich bin zu der Zeit in der Lehre zum Elektriker, will aber eigentlich studieren, Philosophie. Starke Verdachtsmomente. Tagsüber arbeite ich, anschließend geht’s zur Abendschule, das Abitur nachzuholen. Um nachts nicht einzuschlafen, stelle ich eine Kerze vor das Buch, das ich gerade lese, und jedesmal, wenn mein Kopf nach unten sinkt, wird es sehr heiß. Kants »Kritik der reinen Vernunft« studiere ich im Gehen. Doch für seine seitenlangen Parenthesen sind selbst die weltraumlandebahnbreiten Straßen der Hauptstadt der DDR entschieden zu eng.
Die Post zu Freunden und Freundinnen wird abgefangen und ausgewertet. So verschafft man sich ein paar Poesiealbum-Verse, die ich als sechzehnjähriger, verzweifelter Elektriker-Lehrling verfasse, u.a. die Strophen aus »Frage eines jugendlichen Arbeiters«:
F RAGE EINES JUGENDLICHEN A RBEITERS
Am Abend steh ich vor dem Spiegel,
Ich grüble einfach vor mich hin.
Ich frag mich, ob ich lebe oder lüge,
Ob ich das will, was ich jetzt bin?
Ich bohre Löcher ins Metall,
Ich säge Eisen, biege, schraube,
Ich löte, klopfe, schlage überall
An meinen Kopf, damit ich’s glaube.
Weil mein Beruf mein Herz zerstört,
Weil ich verlier dort das Gefühl,
Weil ich das tu, was sich gehört,
Werd ich senilkonfus, konfus-senil.
Der Stumpfsinn ödet mich so an.
Ich kann dir gar nicht sagen, wie.
Er ödet, er ödet, er ödet. Bis wann
Das geht? Wann das aufhört? Nie.
Ich werde hier versinken und versauern
Bei Schaltanlagen, tief im Graben.
In Kellern, Schächten, hinter Mauern
Werd ich mich selbst vergessen haben.
Ich werd mich selbst zum Eisen gießen.
Mein Kopf wird bald ein Schalter werden.
Und Lötzinn wird durch meine Adern fließen.
Und, tja. Das war es dann auf Erden.
Am Abend steh ich vor dem Spiegel,
Ich grüble einfach vor mich hin.
Ich frag mich, ob ich lebe oder lüge,
Ob ich das will, was ich jetzt bin?
Daher der Deckname also, »Spiegel«. Das Gedicht ist die Initialzündung für eine Reihe von seitenlangen Lyrikexegesen gleich mehrerer Ober- und Unterabteilungen, die heute als reinsterNonsens hell erstrahlen. Ein Geheimdienst, der sich für die Pubertätsprotuberanzen eines 16Jährigen interessiert, muß in seinem innersten zentral-zerebralen Kern plemplem, völlig gaga sein. Gut möglich, daß dieser Staat, der einen grotesk überschätzten Liedermacher
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