Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
gab’s auch keins.
»Wir wissen mehr, als Sie denken«, wiederholte er ein paarmal, »wir wissen mehr, als Sie denken … Das müssen Sie wissen!«
Mitten in diesen Spuk hinein schwebte Frau Schneider, um halb aufgeräumt, halb besorgt zu fragen, wie es stehe.
»Großer Bahnhof für so ein kleines, unschuldiges, unveröffentlichtes Gedicht«, sagte ich.
»Öffentlichkeit«, dozierte sie, »begann für die Stasi knapp unterhalb einer Skatrunde – bei zwei Personen.«
»Ich glaube, ich beginne zu begreifen«, sagte ich.
»In Ihrem Fall könnte man sagen: sogar bei Patience«, sagte sie.
»Ja, klar«, sagte ich.
»Und?« fragte sie.
»Und was?« fragte ich. »Gibt es auch ein Kartenspiel ohne Karten?«
»Und haben Sie es sich überlegt? Kommen Sie zu unserem Symposium?«
4
N EUGIER WIDER W ILLEN peinigt mich, als ich den Antrag über Auskunft betreff »Verwendung personenbezogener Unterlagen« bei jener Behörde stelle, deren Name leicht den Verdacht weckt, daß sie wie der Hund zu seinem Herrchen gehört, bei der »Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik«, zwanzig Jahre, gefühlte zweihundert Jahre, nach der Wende.
Wer weiß, was noch alles in meinem Gedächtnis begraben liegt. Nicht ausgeschlossen, daß ich von der Sorte staatsgefährdende Schülergedichte noch ein paar in petto hatte. Insgeheim hoffe ich, daß diese Akten, diese Berichte, dieser ganze Bespitzelungs- und Bearbeitungszirkus sich als nichts anderes als eine Erfindung der Stasi herausstellen werde. Eine Kreation des Apparats, dem es zu langweilig geworden war. Eine eigene Schöpfung mit eigenen Gesetzen und Figuren. Mit Geschichten, die von Mitgliedern einer lyrischen Untergrundarmee handeln, die Staat und Partei angriffen. Einer lyrischen Untergrundarmee, die die DDR mit Privatreimereien von scheinbarer Harmlosigkeit fast für immer ruiniert hätte, wären da nicht die Kämpfer an der unsichtbaren Front, die Kundschafter, Führungsoffiziere und inoffiziellen Mitarbeiter gewesen, die im letzten Moment die unbekannten Dichter aufspürten und stoppten.
Ein paar Wochen später kommt Post, eine Nachricht aus der Vergangenheit. Genaugenommen ist ja alle Post von gestern oder aus länger zurückliegenden Tagen, aber abgesehen vonkuriosen Irrläufern zwischen längst verstorbenen Fernschachpartnern sind Sendungen, die sozusagen nach zwanzig Jahren eintreffen, wie eine Flaschenpost am Kindergeburtstag.
Sie ist da, die Akte.
Ein voluminöses Paket, zweimal 300 Seiten, obenauf ein Schreiben der Bundesbeauftragten, aus dem hervorgeht, daß ich weder offiziell noch inoffiziell als Mitarbeiter geführt wurde.
Gut zu wissen. Hätte ja sein können.
Dann jede Menge Kopien, Stempel, Registerkarten, Arbeitsbescheinigungen, Beurteilungen, Aufenthaltsgenehmigungen, Zeugnisse. Netter Zug des MfS, für die Rente habe ich wieder alles beisammen.
Blätter, blätter, Blatt für Blatt.
»Deckname ›Spiegel‹« steht auf der ersten Seite, darunter »OPK«, operative Personenkontrolle. Wahnsinn, offenbar hatte sich das Hamburger Nachrichtenmagazin für mich interessiert. Karteikarten, Kopien, Ablagen. »Erfassungs-Nr.«, »Bearbeitungsmaßnahmen«, »Ereigniszeit«. Bei »Rechtsnormen« steht: »Vollendung-Hinweis«, darunter bei »weitere Deskriptoren«: »Herabwürdigung WD, Verleumdung Repräs. Postkontakt / Nichtm., fluchtwill., offz. Zweckverh.« Ein Tanz komischer Abbreviaturen und Fragmente, fast eine Eigenparodie auf den amtlichen Abkürzungsfuror, Scrabble für Feierabend-Geheimdienstler.
Dann folgen Briefe, handgeschrieben – oha, das sind ja Briefe von mir, meine Briefe an Liane in München, ihre gerichtet an mich, Liebesbriefe. Wie peinlich. Daneben Randbemerkungen von Oberleutnant Schnatz. Und, tusch!, jede Menge Gedichte, tatsächlich. Was für eine Wiederbegegnung! Die Stasi hat sie mit Unterstreichungen und Kommentaren versehen. Berichte über Berichte über die »einschlägig bekannte Gruppe 61«, die »feindlichen Aktivitäten der Gruppe der 61« und die »im Untergrund tätige Gruppe 61«. IM »Klaus Berger«, IM »Heiko«, IM »Max«, IM »Spieler«.
Was für Namen das sind! Die hätten ruhig etwas glamouröser ausfallen können.
Die alten halbverblaßten Kopien, die Stempel mit ihrer Kartoffeldruck-Patina, die sie jetzt haben, und die betont sachlichen, disziplinierten Buchstabentypen der elektrischen Schreibmaschinen, die die Behörden der DDR
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