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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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reihenweise leerten, den Korken gleich nach innen drückend, wenn Eile geboten und kein Öffner da war? Wo sind sie geblieben? Und wie hießen sie noch mal gleich?
    Moment. War da nicht eine Tür?
    »Da ist, glaube ich, jetzt eine Tür«, meldete ich, »sieht aus wie ein Dachboden.«
    »Wollen Sie die Tür nicht öffnen?« flüsterte sie.

    Atlantis calling. Grün schimmerndes Licht. Wie bei frühen Kindheitserinnerungen sehe ich Bilder. Ich sehe Flaschen. Einen Haufen Flaschen. Ein ganzes Feld von Flaschenhälsen, aufgebaut vor meiner Zimmertür auf dem Dachboden. Fünfundzwanzig Jahre ist das her. Wer mich besuchte, mußte sich einen Pfad durch diese Flaschen bahnen, und am Ende des Besuchs wurden eine, zwei oder drei neue leere zu den anderen gestellt. Ein grünes, stilles, leicht angestaubtes Meer, manchmal illuminiert von den durchs Dachfenster einfallenden Sonnenstrahlen.
    Ich sehe eine nächtliche Straße und folge ihr, überall liegenKleidungsstücke, erst eine Jacke, dann ein Hemd, eine Hose, schließlich führen die Spuren in ein Haus, auf der Treppe Socken, und oben in der offenen Tür, mitten auf der Schwelle zur Wohnung, liegt ein Mann, nackt, und schläft, eine Flasche Wein fest in der Hand umklammert. Ich?
    Magisches Wort: »Goldberyll«. Das Bild ist verschwommen, aber ich erkenne das Etikett einer Flasche, welche die Bedienung im Spitzenschürzchen mir vor die Nase hält. Ich sitze mit der Geliebten im Restaurant, nein: in der Gaststätte. Ein weißes Tischtuch, gebügelt, ein Aschenbecher in der Mitte und daneben zwei Weingläser, Tulpen auf einem wulstförmigen Stengel aus grünem Glas. »Wer von Ihnen darf probieren?« flötet die Kellnerin. Dieweil ich am Wein nippe, bezieht sie, einen Arm hinter dem Rücken gewinkelt, Posten am Tisch. »Und? Zufrieden?« Ich höre die Antwort nicht mehr.
    »Sagen Sie, was Sie sehen«, höre ich Frau Novellis Stimme von weit her, Jahrzehnte entfernt, rufen.
    »Ich gehe durch eine helle Halle«, sage ich, »und ich sehe ein Regal, ein Weinregal, ein riesiges Weinregal, das leer ist. Es ist eine Kaufhalle. Ich trage einen riesigen Korb, darin sehe ich Flaschen. Viele Flaschen.«
    Ich nahm eine in die Hand: »Blaustengler«. Der war bitterlich bitter. Okay, eine andere: »Grauer Mönch« – schmeckte so wie der Name. Und was ist das hier? »Muskateller«, »Muskat Ottonell« – das waren auf ungarisch verschnittene Weinderivate aus der Muskatnuß. Ich fand eine Flasche »Lindenblättriger«, eine Flasche »Eselsmilch« – tja, wie die wohl schmeckten? Daneben lagen »Cabernet«, »Pinot noir« – Rotweine, die runtergingen wie kalter Kaffee. Auch zwei weiße Pullen: »Cotnari« und »Murfatlar« – rumänischer Spitzensud. Tja, und ganz unten im Korb: »Rosenthaler Kadarka« – gab’s damals selten, eine süße rote Molke.
    »Was fühlen Sie jetzt?« wollte Frau Novelli wissen.
    »Ich bin immer noch durstig«, sagte ich. »Kann ich die Flaschen hier mitnehmen? Dann kaufe ich öfter per Zeitreise ein.«
    Das war vielleicht keine so gute Idee, denn die Weine waren damals schon zäh gewesen, heillos verpanschte Tropfen, und sie dürften sich in der Zwischenzeit nicht verbessert haben. Sie wurden aus Ungarn, aus Bulgarien, aus Rumänien importiert, den eher subklassischen Weinanbauländern. Jahrgang, Lage, Rebsorte spielten keine Rolle. Allein die Erwähnung dieser Begrifflichkeiten ließ einen als Mann von Mondänität erscheinen. Wein war eben Wein, mehr nicht. Ein Wort wie »trocken« verwies auf gehobenes, schon den Dünkel streifendes Vokabular. Süß oder nicht so süß, das genügte.
    In diesem Moment ergriff mich Panik, und ich begann zu zittern.
    »Sprechen Sie! Was sehen Sie?« Dieser Frau Novelli entging nichts.
    »Ich will nicht«, sagte ich, »bitte nicht!«
    »Sie müssen keine Angst haben. Lassen Sie es zu. Sie müssen es zulassen.«
    »Nein, das nicht!«
    Mit einem Schlag waren aus dem Nichts jene Kopfschmerzen aufgetaucht, die dem Genuß des DDR-Weins stets folgten. Es gab nicht nur die normalen Suff-Kopfschmerzen, sondern man hatte zusätzlich Bonus-Kopfschmerzen, die einen am Morgen begrüßten. Sie waren immer da, eine schier logische Begleiterscheinung. Zement im Kopf. Hinter der Stirn rotierte der Mischer, während im Nacken Plattenbauten einstürzten. Überlagert wurde dieses unerfreuliche Szenario von einem immensen Großbrand, der allerdings nicht zum Zuge kam, weil die Übelkeit doch stärker war und sämtliche Wegerechte für sich

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