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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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eine sagenhafte Vergangenheit, mir sollte es recht sein. Zumal Frau Novelli selbst den Eindruck einer versierten Zeitreisebegleitung machte, die so leicht nichts aus der Bahn wirft.
    »Sie wünschen also eine Regressionsbegleitung zurück in die DDR?« faßte sie mein Anliegen zusammen. »Das wollte hier bis jetzt noch niemand.«
    »Regressionsbegleitung – ich weiß nicht, ob es das ist, was ich meine«, wandte ich zurückweichend ein.
    »Rückführungen, Rebirthing, Reinkarnation – das allesbedeutet ja nichts anderes als Regression. Zurück, rückwärts, Regreß – verstehen Sie?«
    Ich verstand.
    »Ich kann Ihnen verschiedene Modelle anbieten. Systemische Rückführungen, Phantasiereisen, Reinkarnationstherapien. Aber so eine Art befristeten Zonenurlaub kriegen Sie bei mir nicht.«
    »Nicht. Aha. Das ist schade. Muß man denn immer gleich weit weg, ins Mittelalter oder zum Urknall reisen, damit es klappt?«
    »Es klappt immer. Es gibt nur einen Haken dabei.«
    »Ich weiß«, sagte ich, »man kommt nicht mehr zurück.«
    »Doch, in der Regel schon. Aber Sie können keinen Tag im Kalender buchen und sagen, ich nehme mal den 1. April 1980. Das klappt nicht.«
    »Das klappt nicht?«
    »Das klappt nicht.«
    »Und was klappt dann?«
    Frau Novelli schaute mitleidig, fast fürsorglich, und klärte mich auf.

    Zum vereinbarten Termin erschien ich, bereit und willens, die Verhaltensregeln und Konditionen, die ich praktisch als Hausaufgabe bekommen hatte, zu beherzigen. Rückführungen, so sollte ich mir klarmachen, gingen immer von einer konkreten Fragestellung aus, von der aus eine unbekannte Vergangenheit angesteuert würde. Das könnten sein: Ängste, unheilbare Krankheiten, ein berufliches Desaster, finanzielle Probleme, Beziehungstheater, blockierte Fähigkeiten – im Grunde alles das, was ich nicht hatte und was mir im Moment wenig weiterhalf.
    Zusätzlich gab sie mir den Tip, mir vorzustellen, mit welchem emotionalen Grundgefühl – ich glaube, sie sagte »Anker« – ich die DDR verbinden würde.
    Tja, das war die Frage. Gab es das überhaupt? Ein DDRspezifisches emotionales Grundgefühl? Das war nicht unwichtig. Als Zeitreisender und Regressions-Passagier wollte ich ja nicht in irgendwelchen asiatischen Mittelalterdistrikten landen, auch nicht in prähistorischen Erziehungsdiktaturen, weder in feudalen Provinzhöfen noch im Gulag – Ortschaften, Einrichtungen und Systeme, mit denen die DDR gefühlsmäßig öfter verglichen worden war.
    Grundgefühl? Ich zweifelte sehr, ob ich die DDR überhaupt mit so etwas verbinden konnte. Sie war nun einmal eine Mangelwirtschaft. Nicht ausgeschlossen, daß sie auch einen Mangel an Grundgefühlen hatte.
    Angst? Eher nicht.
    Stolz? Weniger.
    Verbitterung, nein.
    Sicherheit, kann man wohl sagen.
    Langeweile, auch.
    Prinzipielles Einverständnis? Bei gleichzeitiger grundsätzlicher Ablehnung? Mit diesem Bündel von nicht vorhandenen Emotionen lief ich Gefahr, bei meiner Zeitreise auf einem unbewohnten Asteroiden zu landen.
    Ich lag auf einer Art verlängertem Fernsehsessel, hatte aber – was man beim Fernsehen vielleicht auch haben sollte – ein Tuch vor den Augen wie beim Blindekuh-Spiel, und Frau Novellis Stimme dirigierte mich sanft durch die Chaos-Boutique meiner Gefühle.
    »Was fällt Ihnen als erstes ein, wenn Sie an die DDR denken? Wie fühlten Sie sich? Zählen Sie’s einfach mal auf!«
    »Was mir als erstes einfällt … Farben vielleicht …«
    »Farben sind gut! Welche Farben sehen Sie?«
    »Fehlende Farben, nebulöse Farben, Nebelfarben, einen hellbraunen, grauen, schmutzigweißen, beigen, verblaßt schwarzen Farbton, genauer gesagt.«
    »Wenn Sie ein Tor sehen, eine Tür, dann gehen Sie jetzt da hindurch …«
    »Tut mir leid, das ist keine Tür. Auch kein Tor.«
    Eine Weile sah ich gar nichts. »Ich sehe eine Mauer«, behauptete ich trotzdem, »ich glaube nicht, daß ich da einfach durchgehen kann. Könnte sein, daß scharf geschossen wird.«
    »Suchen Sie weiter. Gehen Sie weiter. Riechen Sie etwas? Schmecken Sie etwas? Haben Sie Durst?«
    Durst hatte ich tatsächlich. Ich hätte jetzt gern ein Glas Wein getrunken – wenn’s half, meinetwegen auch DDR-Wein. Doch selbst der ist ja weg. Verschwunden. Verschollen. Vorbei. Die Anfänge meiner hoffnungsvollen Trinkerkarriere in der DDR, sie liegen komplett im Dunkel. Ich weiß nichts mehr. Was stand da im Regal? Wie schmeckte das Zeug? Wie sah das aus? Wo sind sie hin, die Weine, die wir flaschen- und

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