Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
Vom Netzwerk:
ermahnt, und ich muß eine Stellungnahme schreiben, in der ich mich »teilweise« von dem Gedicht distanziere, das nur »z.T. einen Stand der Selbstverständigung über dieses Thema« widerspiegele, und zwar »zu einem früheren Zeitpunkt«. Geschrieben hätte ich es nur, »um zugespitzte Thesen der Kritik zu stellen«. Nicht einverstanden sei ich »mit einer Interpretation, die einzelne Passagen aus dem Zusammenhang reißt«.
    So weit, so kleinlaut. Ein Held bin ich nicht. Dann der Satz: »Im Verlauf des Gesprächs ist mir klargeworden, welche Bedeutung dem Umgang mit derartigen Ratten zukommt.«
    Ratten? Welche Ratten?
    Hinter der mit Schreibmaschine getippten Seite mein handschriftliches Original. Ich lese, und da steht etwas anderes. Klar sei jetzt, »welche Bedeutung dem Umgang mit derartigen Texten zukommt«.
    Der Freudsche Verschreiber oder vielmehr dieser punktgenaue kreative Paukenschlag der Sekretärin, in deren Kopf die Vorurteile vermutlich Amok liefen, als sie den Schwachsinn in zigfacher Ausfertigung abschreiben mußte, bewahrt mich bis zum Untergang der DDR vor weiteren »Erstellungen von persönlichen Kontaktierungen« und »operativen Nutzungen nach Absprache«.
    Gesammelt, kopiert, beobachtet, berichtet, bespitzelt wird freilich munter weiter. Doch meine Texte sind jetzt erfrischend hermetischer.
    D ER S PURWECHSEL
    Ich sitze im Wagen
    Und wechsle
    Zum Überholen
    Die Spur.
    Ich war gern dort, wo ich herkomme.
    Ich bin gern da, wo ich hinfahre.
    Auch unterwegs zu sein ist schön.
    So könnte es immer weiter –
    Gähn.
    Kein Kommentar, keine Unterstreichung, keine »operativ bedeutsamen Momente«. Sie kennen das Original nicht. Oberleutnant Schnatz hat nichts anzumerken.

5
    D ASS DIE J UGEND VERBLASST und irgendwann nicht mehr ist als eine müde Anekdotensammlung – okay. Auch Ländergrenzen werden hin und wieder neu sortiert, Stadtviertel weggesprengt, und in der Kinderstube eines, sagen wir, Herrn Schmidt kann dreißig Jahre später ein Reifenhandel eröffnen. Dramen, die die Welt kennt.
    Im Fall des Falles der DDR ist das Unheimliche, daß die komplette Bevölkerung eines Landes über Nacht umoperiert wurde. Die gleichen Leute in den gleichen Häusern und mit den gleichen Namen benahmen sich plötzlich anders, komisch. Sie hatten neue Klamotten und Frisuren. Benutzten duftende Zahncremes und fremde Wörter, wechselten die Gardinen, tauschten jeden Nagel in ihren Wohnungen aus, und sie sprachen von einer ganz neuen, aufregenden Zeit, der Zeit danach. Die Wende dürfte das größte Massen-Coming-Out der Geschichte gewesen sein. Alles, was noch mit dem früheren Leben verbunden werden konnte, mußte so schnell wie möglich verschwinden: die Einschußlöcher an den Fassaden, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammten, die Schlafzimmermöbel, auf die man einst stolz war, und die Unterwäsche, die auch, die zuerst.
    Ich weiß, wovon ich spreche. Zwar war ich früher keine Frau, aber offenbar ein Lyriker, der staatsgefährdende Verse schmiedete, verfolgt wurde und der heute davon nichts mehr weiß oder wissen will – beziehungsweise doch. Aber wie? Es führt kein Weg zurück. An die DDR denken ist wie an einNiemandsland denken. Alle Erinnerungen sind mit Klischees kontaminiert. Idyllisierender oder dämonisierender Unfug ist die Regel, der Rest mühseliges Durcharbeiten einer Unwirklichkeit, die nie existiert zu haben scheint – als wäre die Mauer im Gedächtnis wiederauferstanden.

    Eine Zeitschleuse, ein magischer Wall trennt die Welten, Zeiten und Orte, Schatten und Licht. Ein Dilemma, für das Frau Novelli volles Verständnis signalisierte, wenn sie auch das Problem etwas allgemeiner, grundsätzlicher angehen wollte. Mir war jener Zettel aus dem Briefkasten wieder in die Hände gefallen – die »Zeitreisebüro«-Reklame mit dem Seifenblasen speienden Vulkan als Signet –, und ich hatte mit der Mutlosigkeit des keineswegs Verzweifelten um einen »Schnuppertermin« in ihrer Praxis gebeten.
    Die Räumlichkeiten in Berlin-Schöneberg erwiesen sich zum Glück kaum durchsummt von sphärischer Summsumm-Musik, auch nur dezent durchduftet von Duftkerzenschwaden und nicht überbestückt mit vertrockneten Ästen, die sich aus Steinschalen emporwinden und die ich bei meiner Zimmerpflanzenphobie kaum hätte tolerieren können. Dafür spannte sich allerlei bunter Stoff quer über die Decke und zurück, an Säulen vorbei und sonstwohin, symbolisierte Zeitschleifen, Zeitschlaufen vielleicht, Laufbänder in

Weitere Kostenlose Bücher