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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
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reklamierte. Ein ganz gewöhnlicher Kater? Vielleicht. Aber es war, ohne Zweifel, ein Riesenvieh.
    »Trinken Sie!« Frau Novellis Hände ergriffen meine Hand und führten sie an ein Glas.
    »Was ist das?«, fragte ich beklommen. Meine Befürchtung war, daß es sich um einen Wein aus der berüchtigten Weinkellerei Neubrandenburg handeln könnte. Weitab von jedem Weinanbaugebiet gelegen, rührte man dort alles mögliche zusammen, Hauptsache mit Glykol. Das Resultat war eine selbst für DDR-Verhältnisse ungewöhnlich schmierige, uringelbe Brühe, die nach dem Rost im Stahltank und ansonsten nach einer Spätlese von Rübenabfällen schmeckte. Schon beim Trinken begann der Betonmischer im Kopf zu rumpeln. Namen, Namen – was stand auf den Flaschen? Ich erinnerte eine blumige, rustikale Schrift, die sich mit opulenter Girlande über das Etikett schwang. »Winzers Privileg«? In der Richtung jedenfalls. Oder, genau, »Küfers Referenz«. Die Genitiv-Weine. Höchste Alarmstufe.
    Es war Wasser.
    Ich trank das Glas in einem Zug aus und sank erschöpft nach hinten. Ich defilierte vorbei an Neubau-Gaststätten, saß am Tisch von Brigadefeiern, tauchte plötzlich bei einem Staatsempfang auf, bei dem ich Erich Honecker anstelle des Mikrophons die Weinflasche vors Gesicht hielt, eine ganze kilometerlange, top-öde Festansprache lang. Ich stand in einer Schlange vor einer Sekundärrohstoffannahmestelle, den Rucksack prall gefüllt mit leeren Weinflaschen, die ich für fünf Pfennig pro Flasche ablieferte. Dann marschierte ich in einer Kompanie der NVA als Soldat mit Stahlhelm im Stechschritt an einer Tribüne vorbei, auf der alle Weinflaschen des Sortiments aufgereiht waren und die Parade abnahmen. Dunkelheit umfing mich, ich geriet in einen Tunnel, an dessen Ende ein Licht aufschien. Es kam näher und näher, und ich merkte, daß der Tunnel eine Flasche war, daß ich mich, tatsächlich, in einem Flaschenhals befand. Auf seinem Grund schimmerte ein kleiner See. Kneipengebrabbel ertönte,höhnisches Gelächter, rohe Wortfetzen, vulgäres Zeug. Was für ein Kontrast zum grün leuchtenden Horizont an den Ufern des Weins. Wie schön es hier war! Ich sprang hinein und schwamm ein paar Runden. Glücksgefühle. Ich war frei. Gern wollte ich ertrinken, aber das ging irgendwie nicht. Der Wein war wie Luft. Er hatte sich in Luft aufgelöst! Mit einem Urschrei befreite ich mich aus dem Flaschenhals und transponierte mich zurück in Frau Novellis Fernsehsessel.
    Ich war erschöpft.
    »Sie haben so laut geschrien, daß ich es im nächsten Jahrtausend gehört habe«, sagte sie schmunzelnd und betupfte meine heißgelaufene Stirn mit einem Tüchlein. »Was ist passiert?«
    »Nichts weiter«, sagte ich, »nur sehr seltsam: Ich war meine eigene Flaschenpost.« Ich schilderte ihr, was passiert war.
    »Und was haben die Worte zu bedeuten, die Sie wütend und außer sich herausgepreßt haben?«
    »Ich weiß nicht, welche Worte Sie meinen?«
    »Warten Sie«, sie suchte nach ihrem Block, »hier habe ich sie notiert: ›Rosenthaler Kadaver‹, ›Blutiger Mönch‹, ›Trinkers Flatulenz‹?«

    Stunden danach war ich immer noch wie verkatert, hatte aber das Gefühl, daß auch in meinem Kopf eine Tür aufgestoßen worden war. Womöglich konnte ich mich jetzt nach Belieben auf Zeitreisen begeben – hoffentlich nicht immer nur in die DDR. Wäre ja fatal: wenn man bis 1989 die DDR nicht verlassen durfte und jetzt, danach, nur dorthin reisen könnte.
    Eine Sache wollte ich jetzt wissen. Aus Pompeji gibt es Tongefäße, die Azteken hinterließen Urwaldtempel, von den Habsburgern blieb der Walzer, und aus der DDR, da überbleibselten sinnlose Akten. Was sie taugen, ist umstritten. Ich hatte jetzt ein Kriterium parat. Zwar war mir klar, daß die Stasiakte kein Weinkatalog sein würde. Aber vielleicht gab es irgendwo einenHinweis? Wenn sie für mich eine Relevanz haben wollte, sollte sich etwas zum Wein darin finden lassen.
    Mag sein, eine etwas willkürliche, weit hergeholte, absurde Sichtweise, doch keine illegitime. Die Stasi hatte sich der kompletten Mikroskopie meines Lebens als Bohemien und Privatlyriker befleißigt. Und das, ich gebe es zu, war, wie auch anders, vom Wein, falls das DDR-Gesöff so genannt werden kann, nicht ganz, wie soll ich sagen, unbehelligt. Wenn die Stasi nicht völlig unfähig gewesen war, konnte ihr das unmöglich entgangen sein.
    Und, siehe da: alles klar. Es findet sich tatsächlich ein Hinweis, wenn auch nur ein Wort. Ein Wort,

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