Ich sehe dein Geheimnis
stieß ich die erstbeste Frage hervor, die mir einfiel: »Warum verlässt man New York City und zieht nach Eastport?«
Dann hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen, weil das wie eine Beleidigung klang. Schnell sagte ich: »Damit will ich nicht sagen, dass dein Vater herabgestuft wurde oder so was. Ich liebe Eastport. Ich bin hier aufgewachsen. Es ist wunderschön hier.« Oh Clare, halt bloß den Mund!
Er lächelte. »In einer Stadt wie dieser spricht sich offensichtlich alles schnell herum.«
O nein, jetzt denkt er, ich hätte die Leute über ihn ausgefragt. Er glaubt bestimmt, ich sei hinter ihm her.
»Wir sind noch nicht lange in Eastport, aber …« Er beugte sich zu mir hinunter und ich atmete seinen Geruch ein. Er roch nach einer Mischung aus Seife, Shampoo und … einfach verführerisch männlich. »Es gefällt mir jetzt schon gut hier. Sehr gut sogar.«
Ich fragte mich, wie es wohl wäre, ihn zu küssen und zwang mich sofort, an etwas anderes zu denken. Ich wusste, dass ich rot wurde und er genoss mein Unbehagen sichtlich.
»Wir sehen uns.« Er ging weiter, blieb aber noch einmal stehen. »Wie heißt du eigentlich?«
»Clare.«
»Clare«, wiederholte er. »Süß.«
Mein Mund war trocken. Mein Herz schlug bis zum Hals. Das hatte ich nicht erwartet. Nach dem Ende der Beziehung zu meinem bisher einzigen Freund hatte ich mich für meine restliche Zeit in dieser Stadt schon auf ein Leben ohne Verabredungen eingestellt. Und jetzt war hier dieser heiße Typ und flirtete mit mir. So etwas war ganz neu für mich.
Als Gabriel die Treppe hinunterging und mir zuwinkte, sah ich ein Tattoo unter seinem T-Shirt hervorblitzen. Ich überlegte, was es sein könnte. Stacheldraht um seinen Bizeps herum? Vielleicht eine Rose?
Jemand beendete meine Fantasien mit einem lauten Räuspern. Ich wirbelte herum. Mom grinste wie ein Kind, das ein Geheimnis hat.
»Hast du irgendetwas erfahren, dass du gegen Madame Maslov verwenden kannst?«, fragte ich.
»Leider nein. Sie hat alle nötigen Unterlagen. Ihr Laden liegt in einem Gebiet, in dem man Geschäfte betreiben darf. Phil kann nichts tun.«
»Warum grinst du dann so?« Doch kaum hatte ich die Frage gestellt, wusste ich die Antwort. »Wie lange stehst du schon hier?« Hoffentlich hatte sie meine unreinen Gedanken über Gabriel nicht gelesen.
Sie verkniff sich ein Lachen.
»Mom, hör auf, mich zu belauschen! Das ist unhöflich!«
Sie tätschelte meinen Arm. »Natürlich, mein Schatz. Aber nur wenn du mir bald erzählst, was das für ein Tattoo ist.«
Eigentlich hatte Mom auf dem Heimweg nur kurz etwas besorgen wollen. Doch am Ende hatten wir auf der Suche nach einem neuen Shampoo, von dem sie in irgendeinem Hippieblog gelesen hatte, vier Geschäfte abgeklappert. Das Zeug war ohne Tierversuche produziert, nicht in einem Land abgefüllt, das sie nicht mochte, und bestand aus dem Extrakt irgendeiner Bergpflanze. Während meiner Geiselhaft im Auto vertrieb ich mir die Zeit mit dem Plan, den Flascheninhalt mit einem billigen Durchschnittsshampoo zu ersetzen und abzuwarten, ob sie den Unterschied bemerken würde. Sobald Mom mit der Einkaufstüte zum Auto zurückkam, verbot sie mir natürlich solche kindischen Spielchen.
Es ist wirklich kein Spaß, eine Gedankenleserin zur Mutter zu haben.
Erst am späten Nachmittag kamen wir nach Hause. Beim Einparken entdeckten wir Perry, der auf der Veranda saß und mit einem Mädchen in Bikinioberteil, abgeschnittenen Shorts und Inlineskates flirtete. Perry gestikulierte wild und das Mädchen krümmte sich vor Lachen. Als wir die beiden erreichten, war Perry beim ernsten Teil der Geschichte angelangt. Das Mädchen sagte: »Oh, du Armer« und sah ihn traurig an, während sie zugleich Perrys Narbe an der Augenbraue mit ihrem Finger nachzeichnete. Ich fragte mich, welche Geschichte es diesmal war. Hatte er einen Yorkshireterrier vor einem Kojoten gerettet? Oder vielleicht eine alte Dame vor einem Taschendieb? Die wahre Entstehungsgeschichte der Narbe beinhaltete einen Zusammenstoß mit unserem Treppengeländer. Das Treppengeländer hatte gewonnen.
»Wo wart ihr denn?«, fragte er, als Mom und ich die Verandatreppe hinaufstiegen.
»Wir haben die ganze Welt nach einem Shampoo abgesucht«, antwortete ich. »Wie heißt deine Freundin?«
»Ich bin Jinnie!«, rief sie erfreut und streckte die Brust heraus. Sie war ungefähr sechzehn und vermutlich nicht gerade hochintelligent. »Ich mache hier mit meiner Familie Urlaub, bin vorhin an
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