Ich sehe dich
wenn sie sich ärgerte, um die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken.
»Brauchst du noch lang?« Ronnie trat neben sie und stellte ein Glas Wein auf den Schreibtisch. »Der Krimi fängt gleich an.«
»Danke. Ich komme nach.« Sie nippte. »Shiraz?«
»Chilenischer Sauvignon.« Er zog einen zusammengefalteten Zettel aus der Hosentasche und reichte ihn ihr. »Die Internetadresse habe ich heute von Eleonor bekommen, du weißt, die neue Anästhesistin.«
Sara öffnete das Papier und blickte Ronnie fragend an.
»Das ist ein Handyortungsservice. Eleonor nutzt diesen Service für ihren Sohn. Ich finde, wir sollten das für Jonas auch einrichten. Du musst dich nur anmelden und seine Handynummer bei dem Provider für die Ortung freischalten lassen.«
Sara legte den Kopf zur Seite und musterte Ronnie. »Wozu?«
»Das Besondere an diesem Anbieter ist, dass du die Ortung über Internet und Handy laufen lassen kannst. Du bekommst ein Login für die Ortung und kannst entweder übers Internet genau die Bewegung des Handys mitverfolgen oder dir die Straßennamen per SMS schicken lassen.«
Sie zog ihre Augenbrauen zusammen. Wozu sollte sie Jonas’ Handy orten lassen? Er hatte sein Handy so gut wie nie dabei, warum auch? Er war acht Jahre alt und nie alleine unterwegs.
»Schau nicht so skeptisch. Da muss nur eine Redaktionssitzung länger dauern als geplant. Du kennst doch deine Branche.« Er tippte auf den Zettel. »Geh einfach auf die Seite und lies es dir durch. Oder besser, melde uns gleich an, so viel sollte uns die Sicherheit unseres Sohnes wert sein.«
Das Glas in der Hand gab sie mit einem Finger den Suchbegriff Esperanza ein. Sechsundvierzig Treffer.
Sie begann zu lesen.
12. Dezember 23:45 von Esperanza
Hallo,
jetzt ist es so weit. Ich komme gerade aus dem Krankenhaus, sieben Stiche, weil MEIN Mann meinen Kopf gegen einen Türrahmen geschlagen hat. Wenn er je die Hand gegen mich erhebt, gehe ich. Meine Worte. Gestern noch.
Und, was habe ich getan?
Nichts.
Genau wie die meisten hier, obwohl ich genau weiß, was ich machen müsste.
Jetzt kann ich mich nicht mehr hinter meinen eigenen Ausflüchten verstecken. Ich brauche Hilfe, aber ich habe niemanden, mit dem ich darüber sprechen könnte.
Esperanza
13. Dezember 00:17 von Valeska
liebe esperanza,
du hast nicht »nichts« getan! du hast dich uns geöffnet. das war dein erster schritt in die richtige richtung! ich bin sehr stolz auf dich!wir sind für dich da. wir können dir helfen. am besten erzählst du uns erst mal etwas mehr über dich.
hab mut!
Valeska
Sara starrte auf den Bildschirm. Die Buchstaben verschwammen zu einem grauen Nebel, der keinerlei Sinn ergab. Sie blinzelte, rieb sich die Augen und las die nächsten acht Einträge, in denen ihre Schwester Schritt für Schritt ihre Situation offenlegte. Sie las einen Beitrag nach dem anderen, immer schneller, als ob sie dadurch das Unfassbare greifbar machen könnte.
Nichts davon hatte sie gewusst.
Nichts.
Oder?
Weder, dass Tini Paul betrogen hatte und er deswegen betrunken in der Arbeit erschienen war, noch, dass er dort einen Kunden als arrogantes Arschloch bezeichnet hatte und deswegen fristlos gekündigt worden war. Auch nicht, dass er daraufhin erst recht zu trinken angefangen und nicht mal ansatzweise versucht hatte, einen neuen Job zu bekommen, oder dass Tini davon überzeugt war, dass dies Pauls Art war, sie für ihre Untreue zu bestrafen. Sie las sich den ersten Eintrag noch einmal durch.
… ich habe niemanden, mit dem ich darüber sprechen könnte.
Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Tränen liefen über Saras Wangen, sie sah, wie sie auf die Tastatur tropften, einen feuchten Fleck hinterließen, auf dem C. Dann auf dem N. Mit dem Handrücken wischte sie ihr Gesicht trocken und zog geräuschvoll die Nase hoch. Dann scrollte sie durch die restlichen achtunddreißig Einträge, zwanzig waren von Tini. Sie las sie alle und druckte sie aus. Die restlichen stammten von anderen Forumsmitgliedern, die Tinis Einträge mal mehr, mal weniger hilfreich kommentierten.
Es war absurd. Da schrieb sich ihre Schwester in einem anonymen Internetforum ihren Kummer von der Seele und bekam bestenfalls Ratschläge, die sie selbst täglich anderen Frauen gab. Und dennoch hatte sie immer weitergeschrieben. Wie hilflos und verlassen musste sie sich gefühlt haben, sie, die anderen half und sich selbst nicht helfen konnte.
Ihr letzter Eintrag war der erschütterndste.
18. November
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