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Ich sehe dich

Titel: Ich sehe dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Clark
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Marie, wie sie mit dem Kopf gegen die Wand krachte, in Todesangst durch die Wohnung flüchtete und schließlich aus dem Fenster in die dunkle Nacht sprang, arbeiteten in Lydia. Sie spürte, wie der altbekannte Hass in ihr aufloderte und sie am liebsten aufgesprungen wäre, um den brutalen Schläger eigenhändig zur Rechenschaft zu ziehen, um ihm jede Verletzung, die er Marie angetan hatte, doppelt und dreifach zurückzuzahlen. Schließlich brach sie das Schweigen.
    »Und jetzt? Wie geht’s jetzt weiter? Warum erzählst du den Ärzten diesen Mist von dem Albtraum?«
    Maries Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Ach, die Wichtigtuer. Du weißt doch, was dann abgeht. Die spielen sich als Helden auf und verständigen die Polizei, und dann soll ich ihn anzeigen und … Die haben doch keine Ahnung!«
    »Stopp! Diese Wichtigtuer wollen dir helfen, klar? Die verdienen etwas mehr Respekt.«
    Marie fischte eine Zigarette aus der Schachtel auf ihrem Schoß und zündete sie an. Viel zu schnell inhalierte sie das Nikotin. Lydia spürte Maries Zerrissenheit, die Unsicherheit, die sie mal wieder hinter ihren markigen Sprüchen zu verstecken versuchte. Doch sie ließ sich nicht täuschen. Da war noch mehr, etwas, das Marie noch tiefer getroffen haben musste als die Schläge oder ihr Sturz aus dem zweiten Stock. Geduldig wartete sie darauf, dass Marie ihre zweite Zigarette ausdrückte.
    »Und? Zeigst du ihn an?«
    Marie schüttelte den Kopf.
    »Warum? Ist es wieder deine Schuld? Weil du ihn provoziert hast?« Lydia bemerkte den sarkastischen Tonfall in ihrer Stimme und machte eine kurze Pause. Als sie fortfuhr, achtete sie darauf, so neutral wie möglich zu sprechen. »Wie soll es weitergehen? Marie? Wie? Du weißt, dass du wieder hier landen wirst. Solange du ihn nicht zur Rechenschaft ziehst, wird er glauben, dass er mit dir alles machen kann. Alles.«
    Marie mied ihren Blick.
    »Irgendwann ist es nicht mehr die Notaufnahme. Dann ist es zu spät. Dumusst ihm Einhalt gebieten. Jetzt. Du musst ihn anzeigen.«
    »Ich kann nicht.« Maries Worte waren kaum zu verstehen.
    »Marie! Natürlich kannst du! Verdammt! Du kannst ihn sofort wegweisen lassen. Du weißt genau, dass er sich dir dann nicht mehr nähern darf.«
    »Nein, ich kann nicht. Er … er bringt uns alle um. Die Kinder, meinen Ex, mich, uns alle. Er hat’s geschworen.«

12
    Während Sara darauf wartete, dass der Computer hochfuhr, ließ sie den Blick durch ihr Arbeitszimmer wandern und betrachtete Jonas’ Bilder, die zwischen Fenster und Bücherwand hingen, zusammen mit Fotos in verschiedenen Größen. Fotos von Jonas, Ronnie, ihrer kleinen Familie, zu Hause, im Urlaub. Fotos von ihrer besten Freundin, ihrer Mutter, von Tini. Tini und sie beim Klettern, die legendäre Romreise zu ihrem zwanzigsten Geburtstag, Tini und sie als Teenager beim Schwimmen, als Kinder beim Skifahren. Sie stand auf und stellte sich vor das Foto. Das fröhliche Grinsen ihrer Schwester zeigte eine Zahnlücke, die Hose, durchnässt von den vielen Stürzen, hatte einen Riss am Knie, und die Mütze hing ihr schief über ein Ohr. Ihr eigenes, ernstes Gesicht war der Kleineren zugeneigt, den Arm fest um ihre Schulter, drückte sie Tini so eng an sich, dass ihre beiden Körper ein umgekehrtes V bildeten.
    Sie tippte die URL aus ihrem Notizbuch ab und sammelte die Kugelschreiber auf ihrem Schreibtisch ein, während der Browser arbeitete. Sie liebte diesen Tisch, er war aus Glas und wie immer über und über mit Papieren bedeckt, auf dem Teetassen und Wassergläser ihre Ränder hinterlassen hatten. Endlich. Ein paar Klicks später hatte sie die aktuellen Postings der Forumsmitglieder auf dem Bildschirm.
    Heute 20:05 von Babette
    hi maren, was soll das? du lügst dir nur in die eigene tasche, wenn du glaubst, dass du ihn mit einem anti-aggressions-kurs ändern kannst. der schlägert seit jahren und das soll ihn in ein lamm verwandeln? totaler scheiß. sorry, aber hey? wach auf!
    Babette
     
    Sara überflog die Einträge der letzten vierundzwanzig Stunden und spürte, wie sich mit jedem Wort mehr Widerstand in ihr aufbaute. Niemals würde Tini in so einem Forum ihre Eheprobleme erörtern. Niemals! Sie lehnte sich auf ihrem Drehstuhl zurück und versuchte, sich an die letzten Gespräche mit Tini zu erinnern. Hatte sie wirklich nie anklingen lassen, dass in ihrer Ehe etwas nicht stimmte?
    Meist hatte sie selbst Tini ihr Herz ausgeschüttet. Über Ronnie. Vielleicht sollte sie öfter mal solche Foren besuchen,

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