Ich sehe dich
lage der frau: der erste schlag kommt als schock. der typ ist untröstlich über den »ausrutscher« und ist danach besonders lieb, und die frau hofft, dass alles wieder gut wird.
Cooldude ist jetzt online.
Violettinchen: Aber das wird’s eben nich mehr, oder?
Blackwidow: nein, über 90% der männer, die einmal zuschlagen, schlagen wieder zu. trotzdem bleiben viele frauen, weil er droht, die kinder wegzunehmen, sie finanziell abhängig ist, usw.
Lydia schenkte sich Tee nach. Und manche sperren ihre Frauen ein. Oder bringen sie um.
Cooldude: Ich hatte einen Fall, da hab ich die Polizei eingeschaltet, und die Frau hat die Anzeige zurückgezogen. Eine Woche später war sie wieder im Krankenhaus.
Charly ist jetzt online.
Bibi: Sag ich doch: Blöd, wenn man bei so einem Arsch bleibt.
Violettinchen: Bibi, du nervst. Vielleicht hatte sie Angst.
Allerdings. Du nervst. Lydia leckte die letzten Reste Vanillesoße aus dem Suppenteller.
Cooldude: Ich bin zu ihr, echt sauer, denn ich hatte viel Zeit investiert, aber sie hat nur geweint. Mit viel Mühe hab ich dann herausgefunden, dass sie die Anzeige zurückgezogen hat, weil er ihr gedroht hat, sie umzubringen, wenn er verknackt wird.
Und, Cooldude, kannst du ihre Angst nicht verstehen? Was soll sie denn tun? Ihr Leben lang auf der Flucht sein? Immer Angst haben? Oder ihren Mann um die Ecke bringen? Als sichere Lösung? Meinen Segen hätte sie. Vater Staat sieht das aber nicht so gern.
Charly: Es gibt auch Männer, die Opfer sind.
Genau, Charly. Geh doch mal in die Notaufnahme und schau, wie viele Männer du dort findest, die von ihren Frauen zusammengeschlagen wurden.
Blackwidow: statistisch sind das nicht mal 5% der häuslichen gewaltopfer, notwehr mit eingerechnet.
Violettinchen: Hallo charly, bist du eins?
Charly: Ja. Alles hab ich für meine Frau getan. Aber das Luder hat sich in einen anderen verguckt und wollte mich loswerden. Also hat sie versucht, mich umzubringen, und mich dann liegen lassen, mit Verbrennungen dritten Grades .
Lydia stockte der Atem. Sie spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich.
»Du Schwein!« Sie ließ ihre Faust heftig auf den Tisch knallen. »Du dreckiges Schwein!«
Bibi: Krass. Und dann?
Charly: Dann war ich wochenlang im Krankenhaus.
Cooldude: Und deine Frau?
Charly: Ist seitdem verschwunden.
Hastig klickte Lydia die Seite weg. Sie starrte auf die wechselnden Werbebanner der Partnervermittlung, die auf dem noch offenen Internetportal abwechselnd ein- und ausgeblendet wurden. Sie hörte laute, abgehackte Atemgeräusche. Nach und nach merkte sie, dass es ihre eigenen waren, dass sie hyperventilierte. Wie in Zeitlupe zwang sie sich, aufzustehen und die Schubladen nach einer Tüte zu durchsuchen. Jeder Handgriff ein Kraftakt. Mit jedem Keuchen spürte sie, wie sie die Kontrolle über ihren Körper verlor, wie ihre Gelenke zu Watte wurden. Sie sank vor dem Herd auf den Boden. Konzentrierte sich auf ihre Atmung. Langsam driftete sie in den ihr so gut bekannten Zustand zwischen Ohnmacht und Wachsein, die Augen starr auf den Abfalleimer neben dem Küchentisch gerichtet, der Körper wie gelähmt, die Atemstöße kurz und heftig. Die Konturen des Mülleimers bewegten sich, hüpften im Zimmer auf und ab und verwandelten sich langsam in den Albtraum, der sie überallhin verfolgte.
15
Ich sehe dich. Das ist dein schlimmster Albtraum, nicht wahr?
Er starrte auf den Satz, der noch immer auf dem Bildschirm leuchtete. Dann verzog er den Mund zu einem breiten Grinsen.
Blackwidow ist jetzt offline.
Er sog die Zeile mit einem tiefen Atemzug ein, Buchstabe für Buchstabe, um sie für immer festzuhalten, während sie mit jeder neuen Chatline weiter nach oben und schließlich vom Bildschirm rückte.
Du hast angebissen. Du bist wortlos gegangen.
Wortlos!
Hereingefallen bist du auf mich. Du hast dich selbst verraten. Dabei wäre es so leicht gewesen, mich auszutricksen. Du hättest nur weiterschreiben müssen. So was wie: »auch für männer gibt es anlaufstellen zur traumaverarbeitung, versuchs mal mit …« Das hätte mich verunsichert. So cool bist du nicht. Ich weiß, wie du tickst.
Er überflog die Unterhaltung über das Verschwinden von Blackwidow.
Wie krank ihn das machte. Wenn die anderen an ihren Worten hingen.
»Was meinst du, Blackwidow?«
»Was würdest du machen, Blacki?«
Ja, was wirst du jetzt machen, Blacki?
Jetzt, wo du weißt, dass ich dich nicht vergessen habe?
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