Ich uebe das Sterben
Bedrohliches entdeckt worden sei. Die zweite ärztliche Meinung aus dem Klinikum Großhadern bestätigt also die erste aus dem Klinikum Darmstadt. Das verschafft mir so viel innere Ruhe, dass ich die Erlebnisse des Morgens und auch den Harndrang für die nächsten Stunden vergesse.
Wieder zurück in meinem Zimmer, bekomme ich etwas zu essen. Das Essen gestaltet sich allerdings ziemlich schwierig, denn ich muss für die nächsten achtzehn Stunden ganz flach auf dem Rücken liegen, um eine Embolie zu vermeiden. Daher ist das Essen fast schon Beschäftigungstherapie. Ich bin hungrig, und ich habe Zeit. Zeit genug, die ganze Portion im Mund und auf der Bettdecke landen zu lassen.
Mit gefülltem Bauch versuche ich, Ruhe zu finden. Doch je länger das dauert, desto unruhiger werde ich. Die Ereignisse des Morgens überrollen mich, verängstigen mich. Zudem wird der Harndrang nicht weniger. Nach dem dritten erfolglosen Versuch mit der Bettpfanne versagen meine Nerven. Tränen fließen völlig unkontrolliert. Ich setze die Kopfhörer meines Discman auf; die Musik beruhigt mich wenigstens ein bisschen.
Die folgenden zwölf Stunden erscheinen mir endlos. Der Rücken schmerzt, die Blase drückt, und die Psyche ist gebrochen. Meine Gedanken kreisen immer wieder um das bedrohliche Gefühl, dass ich dem Tod nahe war. Als es draußen Nacht wird und das Licht im Zimmer aus ist, kriecht die Angst aus allen dunklen Ecken in meine Knochen und lässt mich keinen Schlaf finden. Ich schaue auf die Uhr und sehe, wie die Zeit verrinnt. Zum ersten Mal beschäftige ich mich mit Sekunden, Minuten und Stunden nicht im Zusammenhang mit Sport. Um zwei Uhr morgens kommt die Nachtschwester und hilft mir beim Aufstehen, damit ich zur Toilette gehen kann. Der Weg dorthin ist eine solche Erleichterung für mich, dass wieder Tränen fließen. Zurück im Bett, falle ich erschöpft in einen tiefen Schlaf.
Unsanft und viel zu früh werde ich am nächsten Morgen geweckt. So ist der Krankenhausalltag. Das Personal ist schon am frühen Morgen energiegeladen und steht damit im krassen Gegensatz zu den Patienten – oder zumindest zu mir. Nach dem Frühstück bekomme ich meine Entlassungspapiere ausgehändigt und mache mich auf den Weg zum Parkplatz. Die Sonne scheint, und ich fühle mich – bis auf die unangenehmen Druckverbände an den Leisten – gut. Ich kann nicht mehr nachvollziehen, dass mir der Weg vom Parkplatz zur Klinik am Tag zuvor solche Schwierigkeiten bereitet hat.
Die zweite Bestätigung, dass meine Beschwerden meine Gesundheit nicht gefährden, wiegt mich in trügerischer Ruhe. Und ich werde zur Expertin in Sachen Ignorieren meiner Herzprobleme.
Am letzten Juniwochenende mache ich mich auf nach Roth. Dort findet der alljährliche Triathlon über die Ironman-Distanz statt. Seit Jahren fahre ich als Zuschauerin hin. Meinen eigenen Start plane ich für das Jahr 2000.
Als ich die Autobahn verlasse und das Ortsschild von Roth passiere, bekomme ich eine Gänsehaut. Der kleine Ort in Franken steht jedes Jahr für ungefähr eine Woche kopf. Alle Schaufenster sind dem Triathlonsport entsprechend dekoriert. An allen nur möglichen Stellen sind Plakate aufgehängt. Überall sieht man Athleten auf Fahrrädern, mit Laufschuhen, mit angespannten Gesichtern. Zu dieser Zeit scheint es in und um Roth nur Triathleten und Freunde des Triathlonsports zu geben. Hier wird Triathlon gelebt, und ich lebe ihn mit.
Als ich das Messezelt betrete, schlagen mir die Hitze und der Geruch nach Massageöl entgegen. Überall stehen leicht bekleidete, gut geformte Menschen – Triathleten eben. Ich treffe viele Bekannte, rede hier, trinke dort ein Bierchen und vertreibe mir so auf angenehme Art die Zeit.
Am nächsten Morgen mache ich mich sehr früh auf den Weg, denn den Schwimmstart will ich auf keinen Fall verpassen – und der ist um sechs Uhr. Es hat die ganze Nacht geregnet, und die Temperaturen am frühen Morgen sind empfindlich kühl. Noch immer schlägt feiner Nieselregen nieder; ich fühle ihn auf meiner Haut. Nebelschwaden kriechen übers Wasser, und genauso kriecht die Anspannung der Athleten durch die Luft und durch meinen Körper. Ich bin hellwach und spüre das Knistern der Atmosphäre. Umgeben von so vielen Menschen – es sind sicher schon an die zehntausend Zuschauer an den Start gekommen –, bin ich mir doch selbst überlassen und versinke in der Stimmung. Ich denke, dass es fast allen Menschen an diesem Morgen so geht. Es wird nicht viel geredet.
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