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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gritt Liebing
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Defi!?«
    »Oh, nein«, schießt es mir durch den Kopf. »Jetzt hast du so lange mit dem Defi gehadert, und kurz bevor du ihn bekommst, bist du weg.«
    Ich sehe, wie der Pfleger seine Hände ineinanderlegt und beide Arme erhebt, um den präkordialen Faustschlag bei mir anzuwenden. Das ist eine Maßnahme, mit der man versucht, das Herz wieder in den gewohnten Sinusrhythmus zu bringen, wenn kein Defibrillator direkt greifbar ist. In dem Moment, als seine Hände mich berühren, verlässt ein Teil von mir meinen Körper und entschwebt zur Decke. Ich empfinde keinen Schmerz, sondern beobachte ganz ruhig und aus der Distanz, dass sich viele Menschen sehr hektisch um meinen regungslosen Körper scharen. Es ist, als ob ich einen Film betrachte, der nichts mit mir zu tun hat.
    Dann tauche ich ab in ein absolutes Nichts. Eine große, dunkle, unendliche, stille Leere.
    Zwei Krankenschwestern rollen mich in meinem Bett über endlos lange Flure auf meine Station zurück. Ich wimmere, weine, bin nicht richtig bei Sinnen und habe Schmerzen. Bin ich schon wieder in der Realität, oder träume ich noch? Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Ich kann nicht wach sein, aber auch nicht ruhen. Es ist eine Art Dämmerzustand, der keine klaren Gedanken zulässt. Ich zittere vor Kälte, obwohl es ein schwüler Sommertag ist; selbst drei Decken können das Beben des Bettes nicht stoppen. Meinen Zimmernachbarinnen wird das Mittagessen serviert; der Anblick und der Geruch reichen aus, dass mir speiübel wird und ich mich übergeben muss. In dem Moment versagt auch der restliche Funke Verstand. Ich heule laut vor mich hin.
    Um die Situation für alle erträglicher zu machen, werde ich in ein abgelegenes Zimmer geschoben. Dort bin ich allein. Allein mit mir und Ted.
    Die Ruhe tut gut, und langsam komme ich richtig zu mir. Ich sehe aus dem Fenster und denke, dass es einfach wäre, jetzt rauszuspringen und weg zu sein, zu entfliehen in die unendliche Weite des stillen Nichts.
    Als Schwester Arnika mit ihrem unendlich sonnigen Gemüt das Zimmer betritt, laufen immer noch Tränen über meine Wangen. Ich weine stumm und lautlos.
    Arnika setzt sich auf meine Bettkante und hängt mir eine Infusion mit einem Schmerzmittel an. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: In der Flasche ist nicht nur ein Schmerzmittel, sondern auch ein Antidepressivum. Während Arnika mit mir über mehr oder weniger belanglose Dinge redet und die Infusion in meine Venen läuft, geht es mir immer besser.
    Nach einer halben Stunde äußere ich den Wunsch, auf die Toilette zu gehen. Eigentlich müsste ich die ersten sechs Stunden nach der Operation die Bettpfanne nutzen, aber da das ein Problem für mich ist, holt Arnika tatsächlich den Toilettenstuhl an mein Bett.
    Zum ersten Mal erhebe ich mich mit Ted. In dem Moment, als ich den Oberkörper aufrichte, habe ich das Gefühl, als reiße mich ein Sack Zement nach vorne. Ted lastet schwer auf meiner Brust.
    Nachdem die Notdurft verrichtet ist, falle ich erschöpft zurück in mein Bett.
    Dank Arnikas Gesellschaft fühle ich mich einigermaßen gut. Aber da sie zwischenzeitlich schon fast eine Stunde in meinem Zimmer verbracht hat, ist es an der Zeit, dass sie sich wieder in den Stationsalltag einklinkt.
    Allein in meinem Zimmer, mache ich den Fernseher an und sehe mir sinnlos irgendwelche Talkshows an. Am Nachmittag bekomme ich Besuch, mit dem ich mich ganz entspannt unterhalten kann. Ich bin einfach nur froh, die Operation hinter mir zu haben. Um viel mehr mache ich mir bis zum nächsten Morgen keine Gedanken. Die Medikamente wirken.
    In den folgenden fünf Tagen bis zu meiner Entlassung geschieht nicht sonderlich viel. Die Wunde heilt gut, die Schwellung geht sichtlich zurück. Am Defibrillator werden noch ein paar Tests durchgeführt.
    Was sich in diesen Tagen allerdings in mir abspielt, ist alles andere als erfreulich. Den Gedanken, aus dem Fenster zu springen, finde ich weiterhin verlockend. Ich habe Angst. Angst, wie es sein wird, meinen Alltag mit Ted zu bestreiten. Angst, wie unflexibel ich sein werde, weil ich nicht mehr Auto fahren werde. Angst, wie es wohl sein wird, wenn Ted mir den ersten Stromstoß verpasst. Ich fühle mich komplett überfordert. Zudem bin ich wütend. Wütend darüber, dass ausgerechnet mich eine solche Erkrankung trifft.
    Medizinisch gesehen verlasse ich die Klinik in gutem Zustand, aber mental bin ich völlig desolat.
    Die Jungs aus der Wohngemeinschaft geben sich große Mühe mit mir. Zwei Tage

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