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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben
Autoren: Gritt Liebing
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nach meiner Ankunft organisieren sie sogar eine Grillparty. Es wird eine lange ausgelassene Fete, bei der ich – trotz acht Weizenbieren – die einzig nüchterne Person bleibe. Der Alkohol scheint gar nicht in meine Blutbahn zu gelangen. Dabei würde ich mich an diesem Abend gerne einfach mal zudröhnen und die Realität vergessen. Meinem Bewusstsein scheint es jedoch wichtiger zu sein, dass ich einen klaren Kopf behalte.
    Den kann ich auch eigentlich gut gebrauchen, denn ich bin wieder in meinem Alltag angekommen. Mehr oder weniger.
    Am nächsten Tag habe ich mir eine große Sache vorgenommen: Ich räume meinen Kleiderschrank aus. Alle Oberteile, die einen Blick auf Ted gewähren, wandern in den Altkleidersack. Das ist der erste aktive Schritt in mein neues Leben. Endlich bin ich wieder aktiv und kann die Dinge selbst in die Hand nehmen. Und es gibt viel zu tun.
    Ich habe das Gefühl, zu wenig über Ted und Defibrillatoren im Allgemeinen zu wissen. Zudem interessiert es mich, wie es in meinem neuen Leben um den Sport bestellt ist, denn der spielt schließlich eine große Rolle für mich. Also nehme ich Kontakt zur Firma Guidant auf, die Ted hergestellt hat.
    Der erste telefonische Kontakt erweist sich als unglaublich aufbauend. Am anderen Ende der Leitung sitzen freundliche, kompetente Menschen, die offensichtlich nicht nur mit Fachwissen aufwarten können, sondern auch mit sensibler Menschlichkeit auf mich und meine Fragen eingehen. Das tut gut.
    Meine tief sitzenden Ängste weichen, und zurück bleibt nur noch eine leichte Unsicherheit, mit der ich mich durch den Alltag bewege. Meine Wut wandelt sich in das Bewusstsein, dass Gott sicherlich nur die stärksten Charaktere vor solch eine große Herausforderung stellt. Ich wachse täglich mit meinen Aufgaben und lerne eine bisher ungeahnte Lebensqualität kennen.
    Wer beobachtet den täglichen Sonnenaufgang mit purer Dankbarkeit? Wer taucht nachts in den Sternenhimmel ein und flirtet mit dem Mann im Mond? Wer führt ein Leben am Rande des Todes – und ist geradezu erfüllt vom Bewusstsein des menschlichen Daseins? Ich!
    Nicht ganz allein, denn Ted ist immer an meiner Seite. Er hat mir den Blick für die kleinen und großen Freuden des Lebens geöffnet und zeigt mir neue Wege auf, die ich mit viel Optimismus beschreite.
    Verworren war der Weg zu Ted. Und dennoch gestaltet er mein Leben nun auf eine ganz neue Art und Weise mit: nicht besser, nicht schlechter, sondern einfach anders.
    Am ersten Oktobertag zeigt Ted mir um elf Uhr morgens, was in ihm steckt: Er jagt mir die ersten einunddreißig Joule durch meinen Körper. Für mich geschieht das ohne Vorankündigung. Ich erlebe diesen Moment, der nicht länger dauert als ein paar Zehntelsekunden, bei vollem Bewusstsein. Obwohl er so schnell vorbei ist, fühle ich mich hilflos und wie gelähmt. Ich muss mich übergeben, bin müde. Mir ist noch nicht bewusst, dass ich eben nicht nur etwas erlebt, sondern auch überlebt habe.
    Nachmittags fährt mich einer meiner Mitbewohner in die Kerckhoff-Klinik. Dort wird Ted ausgelesen, indem der Programmierkopf des Programmiergerätes auf die Haut aufgelegt wird. Es ist völlig schmerzfrei und dauert nur wenige Minuten. Das Elektrokardiogramm, das der Computer danach ausspuckt, lässt mich erschaudern. Gleichzeitig beschließe ich, abends noch ein Gläschen Sekt zu trinken. Ich habe etwas zu feiern: Geburtstag – im wahrsten Sinne des Wortes.
    Drei Tage später kehre ich an meinen Arbeitsplatz zurück. Meine Kollegen verhalten sich mir gegenüber normal, ohne übertriebene Neugier oder Rücksicht.
    Das Management hält jedoch eine unangenehme Überraschung für mich bereit: In meiner Abwesenheit wurde beschlossen, mir Kompetenzen zu entziehen und das Gehalt zu kürzen. Ich fühle mich nicht in der Lage, darüber zu diskutieren oder gar dagegen anzugehen. Stattdessen nehme ich die neue Situation am Arbeitsplatz einfach als gegeben hin.
    Mein Leben ist ohnehin im Umbruch, und in den letzten Monaten hatte ich jede Menge Möglichkeiten, mich immer wieder auf komplett neue Situationen einzustellen. Eine Umstellung mehr oder weniger macht da nichts aus.
    Ich lenke mich ab, indem ich mich bemühe, meinen neuen Kollegen Harald besser kennenzulernen, der mir schon im Mai positiv aufgefallen war. Wir unterhalten uns nicht nur auf der Arbeit, sondern treffen uns bald auch privat. Diese sich neu entwickelnde Freundschaft tut mir gut.
    Harald fügt sich wie selbstverständlich in unsere
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