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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben
Autoren: Gritt Liebing
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Wohngemeinschaft ein. Wir kochen, trinken, lachen gemeinsam, und wir reden nächtelang. Mit ihm wage ich sogar, wieder Sport zu treiben. Harald läuft nämlich mit ebenso großer Leidenschaft wie ich und gehört sogar zu den sogenannten Ultra-Langstreckenläufern. Das ist völliges Neuland für mich, denn ich bin lauftechnisch bisher noch nicht über die Marathondistanz hinausgekommen.
    Immer öfter ziehen wir gemeinsam die Laufschuhe an und begeben uns in Richtung Wald. Zunächst sind es nur kurze Ausflüge, doch mein Selbstvertrauen wächst, und so wage ich mich bald auch wieder an längere Strecken. Beim Laufen vergesse ich Ted völlig, und ich bin ein klein wenig stolz darauf, dass ich mit Ted im Gepäck meinen Sport für mich wiederentdecke.
    Eines Sonntags überrede ich Harald zu einer Fahrradtour. Er ist nicht gerade der ambitionierteste Radfahrer und besitzt lediglich ein Trekkingrad. Daneben fühle ich mich auf meinem Triathlonrad wie eine Königin. Wir fahren nicht schnell und nicht weit, aber ich spüre mit jedem Tritt, dass mein Leben wieder zur Normalität zurückkehrt. Mit dieser Normalität gewinne ich ein Stückchen des Lebens zurück, das ich ohne Ted hatte.
    Ich bin so motiviert durch meine kleinen Trainingseinheiten, dass sich eine für andere Menschen sicher völlig absurd scheinende Idee in meinem Kopf entwickelt: Ich will im nächsten Jahr im Juli beim Ironman in Roth starten. Die Teilnahme an einem solchen Wettkampf ist wahrscheinlich der Traum eines jeden Triathleten: 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42,195 Kilometer Laufen. Mit diesem Ziel vor Augen beginne ich mit einem konsequenten Triathlontraining.
    Derweil wird auch mein Verhältnis zu Harald enger. Das passt eigentlich gar nicht in meinen Plan, denn im Moment will ich einfach nur mein sportliches Ziel verfolgen.
    Gefühle sind jedoch nicht kontrollierbar, und in den letzten Novembertagen wird es ganz offensichtlich: Wir sind beide ineinander verliebt. Wir verbringen viel Zeit beim Sport, beim Feiern in Marburg, wo Harald studiert hat, und genießen unsere gemeinsame Zeit. Ich bin einfach nur glücklich. Denn ich habe nicht zu hoffen gewagt, dass mein Leben mit Ted eine so positive Wendung nimmt.
    Die Zeit rast, und plötzlich steht Weihnachten vor der Tür. In diesem Jahr möchte ich das Fest ganz alleine verbringen. Irgendwie habe ich das Gefühl, die besonderste Geburt in der Geschichte der Menschheit ganz intensiv erleben und die eigentliche Bedeutung des Heiligen Abends feiern zu müssen. Auch wenn mich weder Familie noch Freunde verstehen, wird mein Wunsch toleriert.
    Ich bleibe in der Villa Kunterbunt zurück, während meine Mitbewohner zu ihren Familien fahren. Ein denkwürdiger Tag beginnt.
    Um sechzehn Uhr besuche ich den Gottesdienst in der nahegelegenen Kirche und kehre sehr nachdenklich nach Hause zurück. Meine Gedanken kreisen um Geburt und Tod. Den Tod, dem ich in diesem Jahr wohl schon so einige Male von der Schippe gesprungen bin. Ich empfinde eine tiefe Dankbarkeit darüber, dass ich noch lebe, aber gleichzeitig läuft mir ein Schauer über den Rücken, wenn ich bedenke, wie nah ich dem Tod war.
    Um nicht zu sehr ins Grübeln zu kommen, zünde ich ein paar Kerzen an und lege eine CD mit Weihnachtsmusik auf. In meinem Kopf herrscht große Leere, ich fühle mich einsam. Aber es war nun mal mein Entschluss, diesen Abend alleine zu verbringen, und so erlaube ich mir kein Selbstmitleid.
    Als ich um einundzwanzig Uhr im nächsten Gottesdienst sitze, fühle ich mich geborgen. Die Einsamkeit fällt von mir ab.
    Nach dieser Mette fühle ich mich erfüllt, als ich die Villa Kunterbunt wieder betrete. Ich öffne eine Flasche Sekt, lege mein Lieblingsvideo Rendezvous mit Joe Black in den Recorder und mache mich über Schnitzelbrötchen und Donauwelle her.
    In dem Film spielt Brad Pitt den Tod, der menschliche Gestalt annimmt, um einen reichen herzkranken Unternehmer mit in sein Reich zu nehmen. Zuvor wandelt er jedoch auf der Erde und erfährt, wie es ist, ein normales Leben zu führen. Die Dialoge sind teilweise sehr tiefsinnig und drehen sich genau um »mein« Thema: Leben und Tod. Ich beschließe, diese Welt nicht zu verlassen, bis Brad Pitt mich abholt – eine angenehme Vorstellung …
    Nachdem ich zwei Flaschen Sekt und alles Essbare vernichtet habe und der Film zu Ende ist, falle ich nach einem Gebet in einen traumlosen Schlaf. Es war definitiv ein Heiliger Abend der ganz besonderen Art.
    Silvester
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