Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
jetzt als »feindlich« gilt …
Vor einigen Tagen wurde Cambridge bombardiert, wo ich lebe.
Am Morgen waren zwei Häuser auf der anderen Straßenseite nicht mehr da, weil sie von Brandbomben getroffen worden waren. Manchmal schlafe ich mit dem Dienstmädchen im Keller. Also mach Dir keine Sorgen, ich bin in Sicherheit.
Neulich habe ich mit Margaret, meiner englischen Freundin, ein paar interessante Filme gesehen wie »Lord Nelsons letzte Liebe«, über Lady Hamilton, und »Verdacht« von Alfred Hitchcock.
In dem Hitchcock-Film habe ich ein paar Mal Angst bekommen, denn es war ein sogenannter »Psychothriller«. Aber dann habe ich gemerkt, wie dumm es war, mich zu fürchten. Es war ja nur ein Film. Das wahre Leben kann viel mehr zum Fürchten sein.
Ich bin ganz schön gewachsen, seit ich von Deutschland fortgegangen bin. (Das ist jetzt zweieinhalb Jahre her, ich kann es kaum glauben.)
Aber ich hoffe, dass ich bald aufhöre zu wachsen, damit ich nicht ständig neue Kleidung brauche. Aus den meisten Sachen wachse ich schnell heraus.
Vielleicht freut es Dich zu hören, dass ich seit einiger Zeit bei den Pfadfinderinnen bin.
Wir treffen uns einmal die Woche und die Mädchen sind alle nett und freundlich zu mir.
Es kommt öfter vor, dass ich mich nicht mehr wie eine Außenseiterin fühle. Und ich liebe die Schule! Mein Lieblingsfach ist Englisch.
Das Schönste daran, bei den Beards zu wohnen, sind die vielen Theaterbesuche. Einmal haben wir ein Stück über Abraham Lincoln gesehen, dann die »Wildente« von Ibsen und »Macbeth«, das mir sehr, sehr gut gefallen hat.
Lotte treffe ich auch manchmal, und obwohl wir schon so groß sind, spielen wir hin und wieder noch mit Greta. Aber meine englische Freundin Margarete wirkt schon richtig erwachsen. Sie sieht so gut aus, dass sie allen Jungen den Kopf verdreht, und mit dreizehn war sie schon mal richtig verlobt.
Es war nur eine Verlobung und sie wird nicht wirklich heiraten. Aber die Jungen sind ganz verrückt nach ihr.
In meinem Fall brauchst Du Dir wegen Jungen noch keine Sorgen zu machen. Ich interessiere mich nur für die Schule.
Außerdem würde mich nur ein Junge interessieren, der genau wie Papa ist, und ich fürchte, so einen Jungen gibt es nicht.
Ich denke die ganze Zeit an Dich und sehne mich danach, Dich endlich wiederzusehen.
Deine Marion
In diesem Brief klang es so, als sei ich immun gegen Jungen, aber zu jenem Zeitpunkt kannte ich meinen ersten Amerikaner noch nicht …
Seit Amerika in den Krieg eingetreten war, waren viele junge amerikanische Soldaten in und um Cambridge herum stationiert.
Und wie die englischen Mädchen in meinem Alter und älter war auch ich fasziniert von diesen groß gewachsenen, starken, hübschen Amerikanern in ihren schmucken Uniformen, die bereit waren, für uns und für die Freiheit zu kämpfen.
Die Yanks, wie wir sie nannten, brachten Glanz in unser Leben.
Sie kauten Kaugummis, verschenkten großzügig französisches Parfüm, hatten ein breites Lächeln und eine lässige Art, und bald schon machte ein Spruch die Runde: »They’re overpaid, over-sexed, and over here.«
Das mochte ja alles sein, aber ich freute mich, dass sie da waren.
Liebes Tagebuch,
heute, am 16. Januar 1944, hat Auntie mir einen zweistündigen Vortrag über Sex und Fortpflanzung gehalten und mich »aufgeklärt«.
Ich denke, das war gut gemeint, aber ich wäre lieber von Mama in die Geheimnisse der Fortpflanzung eingeweiht worden statt von dieser dürren, sonderbaren Engländerin.
Oder ich hätte sie in einem Buch oder einer Illustrierten gelesen, oder aus dem Mund einer Freundin gehört, doch auf diese Idee war keine von ihnen gekommen.
Ich glaube, das liegt zum Teil daran, dass wir alle in ständiger Angst leben und nicht wissen, wann die nächsten Bomben fallen. Deshalb können wir vermutlich nicht so unbeschwert sein wie andere Mädchen in unserem Alter.
Aber warum gerade Auntie?
Natürlich weiß sie nicht, was passiert ist, als ich neulich mit dem Rad nach Granchester fuhr und von einem jungen Amerikaner angehalten wurde.
Gut, ich hätte vielleicht weiterfahren sollen, aber er sah so jung, so süß und so verloren aus.
Ich dachte, er wolle mich fragen, wie man in die Stadt kommt, doch er hat mir eine Menge anderer Fragen gestellt.
Wohin ich ginge, woher ich käme und … (das war das Schlimmste), ob ich Lust hätte, sein »Ding« anzufassen.
Das »Ding« war ein schwammig aussehendes Etwas zwischen seinen Beinen. Ich wusste
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