Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
wirklich vieles erspart.
Und wie viele Unterhaltungsmöglichkeiten und wie viel Abwechslung Du hast! Hier kennt man diesen Luxus nicht mehr.
Und dass Du so viel gewachsen bist! Ich kann es mir kaum vorstellen. Schön, dass Du so viele Freundinnen hast. Ich würde so gern lesen, was für neue Stücke Du geschrieben hast, Marion.
Hier sind leider nicht mehr viele Freunde übrig – es wird immer einsamer.
Alles ist noch gleich daheim, aber doch ganz anders als damals, als Du gegangen bist. Wie lange das schon her ist!
Alles hat sich verändert und das Leben ist sehr traurig geworden.
Ein weiteres Jahr ist beinahe schon vergangen. Was wird das nächste bringen?
Ich wünsche mir nur eines: Dich bald wieder bei mir zu haben. Das wünschst Du Dir sicher auch.
Bleib tapfer, und denk immer daran: Kopf hoch. Das tue ich auch, egal wie schwierig es manchmal ist.
Deine dich liebende Mutter
25. Januar 1942
Im neuen Jahr schrieb ich eine ungewöhnlich lange Rotkreuznachricht an meine Eltern.
Geliebte Eltern. Alles gut. Werde gut versorgt, wirklich. Neuer Mantel. Bleibt fröhlich, das ist Gottes Wille. Hoffe und bete für Euch. Vergesse Euch nie. Tausend Küsse wie immer.
16. Februar 1942
Meine herzallerliebsten Eltern. Herzlichste Geburtstagsgrüße. Passt auf Euch auf. In Gedanken immer bei Euch. Eure Marion
26. Februar 1942
Ihr Lieben, beste Geburtstagsgrüße. Letzte Nachricht von Euch im Oktober. Wünsche Euch Gesundheit, Mut und Hoffnung. In Gedanken immer bei Euch.
Am 9. März 1942 schrieb ich:
Alles bestens. Wieder sehr gutes Zeugnis. Schöne Ferien gehabt. Wie geht es Papa?
Am 15. März 1942 schrieb ich wieder:
Liebste Eltern der Welt, mir geht’s gut. Pflegeeltern wunderbar. Hofft, betet und macht Euch keine Sorgen. Es ist alles Gottes Wille. Alles Liebe, Eure Marion
Am 9. April 1942 schrieb ich:
Sehr gutes Zeugnis. Schöne Ferien. Alles gut bei Euch? Papa? Dicke Grüße, Eure Marion
Im Sommer des Jahres 1942 schrieb ich erneut an meine Eltern, diesmal einen langen Brief, und versuchte wieder, sehr positiv zu klingen. Ich erzählte ihnen von meinem Alltag und von der Schule, da ich wusste, wie wichtig es für sie war.
Rückblickend schäme ich mich für meine Fröhlichkeit, aber woher hätte ich auch wissen können, wie es ihnen inzwischen in Deutschland erging?
Grüße und Küsse, denke immer an Euch. Sitze in der Sonne und hoffe, dass Ihr diesen Brief erhalten werdet. Heute ist Pfingsten, und ich versuche mir vorzustellen, was Ihr gerade macht.
Ich hatte wieder ein gutes Zeugnis und bin Klassenbeste von 35 Mädchen. Ich hatte eine glatte Eins in Englisch und auch in den meisten anderen Fächern.
Im Zeugnis steht: ›Marion arbeitet lobenswert gut mit und ist ein leuchtendes Beispiel für ihre Mitschülerinnen.‹
Ich bin jetzt in einer anderen Klasse, einer Klasse mit den begabtesten Schülerinnen. Dort lernen wir Latein und ich muss den Stoff von einem Halbjahr nachlernen.
Morgens wird immer gebetet, und wir jüdischen Mädchen beten extra, ich auch.
Mein Lieblingsfach ist Englisch und in diesem Fach führen wir Theaterstücke auf und schreiben Stücke und Geschichten.
Ein Stück, das ich in der letzten Klasse geschrieben hatte, wurde zweimal vor drei Klassen aufgeführt. Alle waren begeistert.
Dann schrieb ich noch ein Stück, 46 Seiten lang. Darin habe ich beschrieben, wie ich mich in England fühle.
Sechs andere Mädchen und ich haben unsere Klassenlehrerin und unsere Lieblingslehrerin zu einem Picknick eingeladen. Ich werde es organisieren und wir wollen eines meiner Stücke im Freien aufführen.
Ich hoffe, Ihr werdet es bald lesen können.
Voller Liebe und Sehnsucht
Eure Marion
Am 22. September 1942 habe ich meine letzte Rotkreuznachricht an meine Eltern geschrieben. Natürlich wusste ich damals noch nicht, dass es die letzte sein würde.
Heißgeliebte Eltern. Hoffe, Euch geht es gut. Hier nichts Neues. Habe wieder zwei Wochen Ferien. Danach macht die Schule wieder doppelt Spaß. Denke an Euch, Marion
Liebes Tagebuch,
zum ersten Mal, seit ich Berlin verlassen habe, glaube ich langsam ernsthaft, dass der Krieg bald vorbei sein wird, die Nazis besiegt werden und die Welt wieder frei ist.
Gestern, am 10. November, hat Winston Churchill eine großartige Rede gehalten, denn wir haben Rommels Afrikakorps in El Alamein geschlagen: »Wir werden festhalten, was uns gehört. Ich bin nicht des Königs Erster Minister geworden, um die Auflösung des Britischen Empires zu betreiben.
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