Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
natürlich, was es war.
Ich hatte nur nicht gewusst, dass es wie eine der Quallen am Strand von Travemünde aussieht!
Und anfassen wollte ich es ganz bestimmt nicht.
Deshalb sah ich zu, dass ich von ihm wegkam, und radelte schnell nach Hause und blickte mich nicht mehr um.
Zum Glück habe ich diesen Soldaten nie mehr gesehen, so wenig wie sein Quallending …
Jedenfalls sagte Auntie, ich solle mich setzen, und began n dann: »Marion, ich muss ernsthaft mit dir reden. Ich habe den Eindruck, dass du mit diesen großen braunen unschuldigen Augen reif bist, gepflückt zu werden, wie ich aus den Blicken schließe, die die Männer dir neuerdings zuwerfen.«
Reif, gepflückt zu werden?
Wie ein Apfel oder Ähnliches?
»Eines musst du dir merken, Marion«, fuhr sie fort. »Wenn du eines Tages heiratest, und ich denke, dass das dank deines jüdischen Sexappeals der Fall sein wird, obwohl du keine Mitgift hast, sorge dafür, dass du und dein Ehemann auf alle Fälle ein gemeinsames Schlafzimmer haben werdet.«
»Aber meine Eltern …«
»Das spielt keine Rolle, Marion«, blaffte sie mich an. »Ich warne dich, teile besser gleich mit deinem späteren Mann das Schlafzimmer. Sonst wirst du durch die Hölle gehen, wenn du hörst, wie sich seine Schlafzimmertür öffnet und die Holzdielen knarren, wenn er sich dir nähert, um das Schreckliche zu tun.«
Das Schreckliche?
Margaret hatte mir doch etwas ganz anderes erzählt?
11. April 1944
Liebes Tagebuch,
heute hatte ich mein erstes »Date«. Er ist Amerikaner und heißt Jack.
Er ist groß, dunkel und hat braune Augen, genau wie Papa, und als wir zusammen zu »People Will Say We’re in Love« tanzten, hatte ich das Gefühl, dieser Song sei nur für uns geschrieben worden.
Nach dem Tanzen (ich trug mein grünes Samtkleid, obwohl ich noch ein Stück gewachsen bin und es inzwischen ziemlich kurz ist), hat Jack mich nach Hause begleitet.
Vor dem Haus der Beards (komisch, ich sehe es nie als mein Zuhause, aber das war nun mal Berlin) zog Jack mich in eine dunkle Ecke, nahm mich in die Arme und küsste mich.
Es war so himmlisch, dass ich fast ohnmächtig geworden wäre. Ah, ich kann es kaum erwarten, ihn wiederzusehen.
14. April 1944
Liebes Tagebuch,
Jack ist nach Übersee versetzt worden und ich könnte vor Kummer sterben. Ich weiß weder, wohin er geschickt wurde, noch ob wir uns jemals wiedersehen.
Ich muss aufhören, ich kann nicht weiterschreiben …
Während der Krieg den ganzen Sommer 1944 weiterwütete und nachdem Jack mit unbekanntem Ziel abgereist war, hatte ich eine ganze Reihe anderer Verehrer, allesamt Yanks, charmante, hübsche junge Soldaten, doch keiner von ihnen konnte mein Herz erobern.
Inzwischen hatte sich das Blatt zum Glück gewendet, und es sah ganz so aus, als sei der Sieg der Alliierten endlich zum Greifen nahe.
6. Juni 1944. D-Day!
Liebes Tagebuch,
heute sind 24.000 britische, amerikanische und andere Soldaten in Frankreich gelandet!
Der Krieg wird hoffentlich bald zu Ende sein!
Genau eine Woche nach der siegreichen Landung der Alliierten in der Normandie übte die Luftwaffe Vergeltung, indem sie Südengland mit V-1-Marschflugkörpern attackierte, einer der »Wunderwaffen« der deutschen Wehrmacht.
Hunderte von V-1-Angriffen versetzten die Bevölkerung in Angst und Schrecken, zahlreiche Londoner Familien wurden evakuiert, um ein Blutbad zu verhindern.
Zwei dieser Evakuierten wurden bei den Beards einquartiert, sehr zum Missfallen der Dame des Hauses.
Als Mrs Rose, die Frau von Major Rose, einem der Vorsitzenden der Zionistischen Bewegung von Großbritannien, mit ihrem fünfjährigen Sohn in der Barrow Road eintraf, warf Mrs Beard nur einen Blick auf sie, um hinterher zu sagen: »Juden. Richtige Juden bis aufs Mark, Marion, und kein bisschen wie du.«
Liebes Tagebuch,
gestern (am 24. Juli 1944) sind Mrs Rose und der kleine Steven bei uns eingezogen, und egal was Auntie auch sagt, ich finde sie sehr, sehr nett.
Steven ist ein liebes Kind und sehr intelligent. Er liest bereits Shakespeare und kennt ganze Passagen auswen-dig!
Als er anfing vorzutragen: »Römer! Freunde! Mitbürger! Hört mich meine Sache führen …«, drehte Auntie ihm den Rücken zu und murmelte: »Jetzt schon klüger, als es für ihn gut wäre. Typisch …« Dann ging sie hinaus, um Tassle zu füttern.
Sie kann Steven und Mrs Rose absolut nichts vorwerfen – außer dass sie Juden sind. (Mrs Rose ist wunderschön und sieht wie Vivien Leigh in »Vom Winde
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