Ich war Hitlerjunge Salomon
der letzten Jahre fiel allmählich von mir ab. Ich
gewöhnte mich an mein neues Leben. Jetzt war ich nicht mehr
gezwungen, mich nur noch auf mich selbst zu verlassen, und
ich betrachtete Isaak als Vaterersatz, und das blieb er bis zum
Schluß. Isaak arbeitete in der Redaktion einer in München
erscheinenden jüdischen Zeitung, dem Ibergang , die in jid-
disch, doch in lateinischen Buchstaben gedruckt wurde. Einige
Redaktionsmitglieder, Überlebende des Konzentrationslagers
Dachau, besuchten uns hin und wieder und sprachen über
ihre furchtbaren Erfahrungen.
Ich beteiligte mich an diesen Unterhaltungen nicht, son-
dern hörte erschüttert und fassungslos zu. Meine Shoa blieb
im Verborgenen. Ich fühlte mich etwas unbehaglich, ich ge-
hörte nicht ganz dazu. Die Last, die mir auf dem Herzen lag,
behielt ich für mich. Doch einmal fragte mich einer, welches
Schicksal ich gehabt und wie ich denn die Kriegszeit über-
standen hätte. Ich bekam kaum den Mund auf. Ein innerer
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Widerstand hinderte mich daran, die ganze Geschichte zu
erzählen. Das wenige, das ich offenbarte, erregte ihre Neu-
gier. Die meisten wollten es nicht glauben, und einer von
ihnen ging sogar soweit, das, was ich sagte, als fantastische
Erfindung abzutun. Ich versprach, ihnen einen lebenden Be-
weis für meine Aufrichtigkeit zu bringen. Mit der Erlaubnis
meiner Schwägerin lud ich also meinen Münchner Freund
Otto Zagglauer zum Kaffee ein.
Ende 1947 öffnete die ORT-Schule ihre Pforten in Mün-
chen, und ich schrieb mich in einen Kursus für Feinmechanik
ein. Meine in den Spezialwerkstätten des Volkswagenwerkes
erworbenen Grundkenntnisse halfen mir. Ich studierte fast ein
ganzes Semester. An dem Tag, da ich von der Eröffnung eines
Büros für die Rekrutierung von Freiwilligen für die Hagana ,
die jüdischen Verteidigungskräfte in Israel erfuhr, verpflichtete
ich mich mit pochendem Herzen. Ich hörte zum ersten Mal,
wie die Hagana -Mitarbeiter hebräisch miteinander sprachen.
Ich war sehr gerührt und bedauerte, kein Wort zu verstehen.
Die Rekrutierungsformalitäten waren rasch erledigt, und das
Datum der Einwanderung wurde auf den nächstmöglichen
Termin festgesetzt. Inzwischen hörte ich im Rundfunk die
Meldungen von großartigen Taten der jüdischen Kämpfer in
Palästina.
Ungeduldig wartete ich auf den Tag der Abreise und meine
Beteiligung am Kampf. Diesmal würde ich nicht gegen meinen
Willen oder in den Reihen des Feindes, sondern begeistert
und überzeugt für mein Volk und mein Vaterland – und für
mich kämpfen.
Zwei Tage, nachdem in Tel-Aviv die Unabhängigkeit verkün-
det worden war, erhielt ich die Reisegenehmigung. Ich verließ
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Isaak, Mira und die kleine Naomile, die ich so sehr liebte,
und sprach die Hoffnung aus, sie mögen rasch nachkommen.
Ein großer, mit einer Plane bedeckter Lastwagen brachte
uns zum Hafen von Marseille. Wir blieben einige Wochen
im Lager Saint-Germaine, und in der Dunkelkeit einer Juli-
nacht des Jahres 1948 schifften wir uns auf der »San Antonio«
Richtung Haifa ein.
Ich weiß nicht mehr, wie viele Tage wir auf dem Meer
verbrachten, aber mir schien, es dauere eine Ewigkeit. Wir
waren so begierig darauf, endlich anzukommen, und die Le-
bensbedingungen auf dem Schiff waren nicht einfach. Bis dann
eines sonnigen Tages auf dem tiefblauen Meer der Jubelschrei
ertönte: »Israel in Sicht!« Wir fielen uns auf Deck in die Arme,
überwältigt von unseren Gefühlen. Mein Reisegefährte Eliahu
Beth Josef, noch heute mein treuer Freund, warf sich mir an
den Hals, und wir weinten Freudentränen.
Wir schifften uns in der Nähe des Hafens von Haifa aus,
und ein Lastwagen fuhr uns ins Militärlager von Beth-Lid.
Dort wurden wir eingezogen. Wir leisteten unseren Eid auf den
Staat Israel und bekamen achtundvierzig Stunden Urlaub. Ich
beeilte mich, nach Tel-Aviv zu kommen, um meinen Bruder zu
sehen. Die Weissagung des Peiner Mediums hatte sich erfüllt.
Glücklich stand ich vor meinem Bruder David, unsere Freude
war grenzenlos. In einer Zimmerecke stand ein Kinderbett,
in dem Asriel, der erste Enkel unserer Eltern spielte.
Von David und seiner Frau Pola erfuhr ich vom tragischen
Ende unserer Eltern. Papa starb aus Hunger und Schwäche
und wurde auf dem jüdischen Friedhof von Lodz beerdigt.
David und Pola haben ihn auf seinem letzten Weg begleitet.
– 1989 habe ich den Friedhof besucht, und ich fand dort
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das Grab meines seligen
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