Ich war Hitlerjunge Salomon
mir ein
Bedürfnis, dabei mitzuwirken. Ich sah in diesem Vorschlag
eine Herausforderung und die Möglichkeit, der durch meine
Entwurzelung entstandenen Leere etwas entgegenzusetzen.
Ich nahm ihr Angebot begeistert an und fuhr nach Peine
zurück, um meine Sachen zu holen. Wir begaben uns nach
Magdeburg in Ostdeutschland, wo die Verbindungseinheit der
sowjetischen Besatzungsbehörden stationiert war. Die Fahrt
in dem eleganten Mercedes gefiel mir, und ich summte die
Hatikwa vor mich hin.
»Du singst da ein schönes Lied, Salomon Esrielowitsch,
woher stammt es?« fragte der höhere Offizier, der Major Pjotr
Platonowitsch Litschman.
»Das ist die jüdische Hymne«, antwortete ich stolz.
»Haben die Juden denn eine Hymne?« staunte er.
»Natürlich, wir haben sogar eine Fahne.«
Ich half seinem Wissen etwas nach. Ich erinnerte mich
an die Zeit der Gordonia in Lodz und stellte überrascht fest,
daß ich nichts vergessen hatte. Jetzt, unter diesen Umständen,
fiel mir alles wieder ein.
»Uns fehlt nur ein Land, Genosse Major«, fügte ich hinzu.
Ich ahnte nicht, daß drei Jahre später im Mai die Grün-
dung des Staates Israel verkündet werden würde. Die Hatikwa ,
diese Hoffnung war einfach nicht vorstellbar.
Überall in der SBZ wurden zu der Zeit Erfassungsstellen
eingerichtet, bei denen sich alle Männer ab einer bestimmten
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Altersklasse melden mußten, um Auskünfte über ihre Person
zu geben. Es wurde auch kontrol iert, ob sie eine Tätowierung
unter dem Arm trugen, das Zeichen ihrer Zugehörigkeit zur
SS. Männer mit einer derartigen Tätowierung wurden auf
der Stelle verhaftet. Ich dolmetschte in einem dieser Büros.
Ich übersetzte auch die Gespräche zwischen den sowjetischen
Vorgesetzten und den Sekretären der sozialdemokratischen
und kommunistischen Parteien.
Die Sowjets wollten die beiden Parteien vereinen und den
Weg zur Gründung der Deutschen Demokratischen Republik
in Ostdeutschland ebnen. Die Sozialistische Einheitspartei
entstand.
Ich entsinne mich eines der übelsten Momente der Ge-
spräche, die ich dolmetschte. Es war eine Unterhaltung zwi-
schen Major Litschman und einem hohen Kirchenvertreter.
Der Nürnberger Prozeß der Naziverbrecherbande stand kurz
bevor. Der Kirchenmann tat seine Meinung hierüber kund:
»Bei den Christen findet das Jüngste Gericht vor Gott statt,
jeder, der Reue zeigt, darf auf die Vergebung des Barmherzigen
hoffen.« Litschmann war über eine derartige Rechtfertigung
empört und fragte, ob Gott auch den Mord an Mil ionen von
Kindern und Säuglingen rechtfertige und vergebe. Der Mann
erwiderte, die Kinder hätten unter dem Tod nicht gelitten,
nur die Erwachsenen hätten ihn gefürchtet. Gott habe die
Absicht, sie für ihre Fehler zu strafen und sie durch die Buße
auf den rechten Weg zurückzuführen. Nach dieser Antwort
wurde der fromme Mann hinausgeworfen.
Ich hatte die Suche nach meinen Eltern indes nicht aufgege-
ben und schrieb al en möglichen Stel en, um jeden Strohhalm
zu sammeln. Einer der Briefe ging an eine Freundin meiner
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Schwester in Peine. Ich teilte ihr meinen augenblicklichen Auf-
enthaltsort mit und bat sie, mich über das mögliche Auftauchen
eines meiner Familienmitglieder in Peine zu informieren. Nach
einigen Wochen erhielt ich Antwort. Mechanisch öffnete ich
den Umschlag, doch als ich die ersten Worte gelesen hatte,
überflutete mich eine Wel e des Glücks. Sie schrieb, daß mein
Bruder Isaak und seine Frau Mira unlängst Peine besucht hät-
ten. Mein Bruder Isaak lebte! Ich war trunken vor Freude und
Glück. In ihrem Brief stand, daß er aus dem Ghetto in Wilna
in das Konzentrationslager Dachau gekommen sei und dort
von den Alliierten befreit wurde. Er wohne in München. Ich
schrieb ihm unverzüglich, er möge mich sobald wie möglich
besuchen, und fügte hinzu, daß ich mir aus ganzen Herzen
wünschte, ihn zu sehen, und ich die Möglichkeit hätte, ihn
über die Zonengrenze zu holen. Die gute Antwort ließ nicht
auf sich warten. Isaak und Mira waren auf dem Weg.
Wir sahen uns in der Grenzstadt Öbisfelde wieder, bewegt
und glücklich. »Mama, Papa, hört ihr? Euer Segensspruch
und eure Gebete sind wahr geworden. Ihr sollt leben! ,habt ihr gesagt, und jetzt sind wir da.« Mein Glück kannte keine
Grenzen mehr, als mir Isaak sagte, unser Bruder David lebe
und befinde sich bereits in Palästina. Ich brach in Tränen aus.
Jetzt erfuhr ich auch vom Schicksal meiner
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