Ich war Hitlerjunge Salomon
Zeitungen wurde die »Endlösung« nie-
mals erwähnt. Oder waren meine Augen und Ohren dafür
geschlossen, hatte ich mich so vereinnahmen lassen?
Im Gegensatz zu dem Schweigen, das man über die Ver-
nichtung breitete, machte Goebbels’ Propaganda viel Lärm
um die Entdeckung eines Massengrabs von polnischen Of-
fizieren bei Katyn. »Wie kann die Welt über dieses von den
Bolschewiken angerichtete Gemetzel einfach hinwegsehen?«
fragten die Mörder von Millionen von Menschen zynisch.
Von ihren eigenen Verbrechen war nie die Rede. Erst Manfred
Frenkel öffnete mir die Augen. Im ideologischen Treibhaus der
HJ-Schule lernte ich zwar Rassentheorie, doch mein Gehirn
weigerte sich, eine Verbindung herzustellen oder zu erkennen,
daß diese Theorie zur selben Zeit in den verschiedenen To-
deslagern bereits zur Anwendung kam.
Der tiefe Schmerz, den ich empfand, ist seither mein stän-
diger Begleiter. Wie hatte ich das nur nicht begreifen können,
als ich so oft durch das Ghetto von Lodz fuhr, daß diese
Menschen dort nicht bleiben würden, sondern ein Kettenglied
in den Transporten zu der Vernichtung darstellten!
Blicke ich heute zurück, fällt mir auf, daß ich damals nur
Erwachsene, aber kein einziges Kind im Ghetto gesehen hatte.
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Diese Tatsache hatte mich nicht sonderlich beunruhigt, ich
hatte mich nicht gefragt, was dies zu bedeuten habe.
Das System, in das ich verwickelt war, schärfte zwar ei-
nerseits meine Sinne, andererseits aber betäubte es sie. In den
Nächten, die ich nur halb schlafend in dem aufgelassenen
Barackenlager verbrachte, fühlte ich mich tief deprimiert. Die
Gesichter aller Befreiten strahlten, wußten sie doch, daß sie
in wenigen Wochen in ihr Heimatland, in ihre Städte und
Dörfer zurückgeführt werden würden, wo sie Haus und Herd
wiederfänden und ihr normales Leben wieder aufnehmen könn-
ten. Und ich, ich hatte keinen Ort, an den ich hätte gehen
können. Alles war zerstört.
Ich erinnerte mich an die Hymne Hatikwa , die Hymne
der Hoffnung, die ich in der Gordonia in Lodz gelernt hatte,
und sang sie ab und zu vor mich hin. Sie tröstete mich.
Eines Tages hörte ich Stimmen aus der Nebenbaracke. Ich
schlich mich heran und sah zwei sowjetische Mädchen, die
sich über eine Pritsche beugten. Sie kümmerten sich um einen
russischen Arbeiter, der in seiner Trinklust riesige Mengen von
Methylalkohol in sich hineingeschüttet hatte. Seine Eingeweide
brannten ihm wie Feuer, und er hatte das Augenlicht verloren.
Der arme Mann tat mir leid. Er hatte einen schrecklichen
Preis für den Rausch der Befreiung bezahlt.
Mit einem der Mädchen hatte ich mich heimlich be-
freundet, als ich noch in den Werkstätten des Volkswagen-
werkes arbeitete und die Abzeichen eines Scharführers der
Hitlerjugend auf meiner Brust funkelten. Mehr als einmal
hatte ich mich mit ihr trotz des Verbotes in ihrer Sprache
unterhalten. Diese Beziehung hatte mir damals viel Freude
gemacht. Jetzt war alles erlaubt. Wir klärten rasch, was über
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die Vergangenheit zu sagen war, und begegneten einander
herzlich und aufrichtig. Sie war von einer beeindruckenden
slawischen Schönheit.
Seit all den Jahren verwahre ich sorgsam die Adresse und
das Photo, das sie mir zum Andenken gab. Ich hatte mir
vorgenommen, sie zu besuchen, sobald die politischen Bezie-
hungen zwischen Israel und der Sowjetunion dies zuließen.
Ich wollte in die Gegend von Tewlinski fahren und in dem
Sowchos Karl Marx nach der Genossin Tschaika Gallina Ja-
kowna fragen. Als Josef Perjell, der Deutsche, hatte ich mich
von ihr verabschiedet, und als der Augenblick gekommen war,
ihr die Wahrheit zu sagen … Ja, da hatte ich mein Geheimnis
für mich behalten! Ich weiß bis heute nicht, warum.
Ich schaute auf einen Sprung bei der Familie Latsch vorbei,
und es kam zu jener letzten Begegnung mit Leni, die mein
Geheimnis bereits von ihrer Mutter erfahren hatte. Wir waren
fröhlich, gingen noch einmal zusammen aus und verabschie-
deten uns dann. Für unsere Freundschaft, die Freundschaft
zwischen einem BDM-Mädchen und einem Hitlerjungen, war
die Zeit abgelaufen. Mit ihrer Mutter korrespondierte ich
mehrere Jahre lang, bis zu ihrem Tod. Leni wurde Ballett-
tänzerin und heiratete unseren gemeinsamen Freund Ernst
Martins, der für die Gestapo gearbeitet hatte. Sie wanderten
nach Kanada aus.
Es kam der Tag, an dem ich Braunschweig verließ. Doch
neben den schweren Dingen gab es auch fröhliche
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