Ich war Hitlerjunge Salomon
Ereignisse,
und so blieb ich der Stadt gegenüber gespalten. Ich verließ
die geheime Kampfarena als Sieger. Weder die schmerzlichen
Erfahrungen noch die angenehmen Momente werde ich ver-
gessen. Ich habe sie kunterbunt durcheinander im Gedächtnis
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behalten. Ich ließ Braunschweig bewegt hinter mir und wandte
mich einer künftigen Welt vol er Träume und Hoffnungen zu.
Ich fuhr nach Peine, doch diesmal als freier Mensch. Ich
wol te mir einen Ausweis mit meinem wahren Namen besorgen.
Ich begab mich auf das Rathaus, um mir einen Auszug aus
dem Geburtenregister zu holen. Dort wurde meinem Ersu-
chen mit distanzierter Höflichkeit entsprochen, und das Papier
wurde unverzüglich ausgestellt. Man befreite mich sogar von
der Gebührenpflicht …
Bei den Beamten stieß ich hier und da auf ein gezwun-
genes Lächeln. Natürlich erinnerten sie sich an die Familie
Perel, wagten aber nicht zu fragen, was aus ihr geworden sei.
Maseltov , Glückwunsch, Sally Perel war wiedergeboren!
Allein und von meiner Welt getrennt, hatte ich meinen
Krieg ums Überleben geführt und hatte ihn gewonnen. Ich
hatte meine Geburtsurkunde erhalten, man hatte mir meine
widerrechtlich entzogene Identität wiedergegeben. Doch Jupp
blieb nach diesen Ereignissen noch in mir, er war mir teuer
wie ein aufregender Teil meines Lebens. Ja, ich stehe zu dem
Hitlerjungen Jupp. Ich habe nichts gegen ihn einzuwenden,
keinen Haß auf ihn, keine Anklage gegen ihn zu richten. Er
hat gehandelt wie er mußte. Unter den Umständen, unter
denen er lebte, konnte er sich nicht anders verhalten.
Beim Verlassen des Gebäudes stieß ich auf ein riesiges
Schild: »Hilfskomitee für die Opfer des Nationalsozialismus«.
Ich hatte Skrupel hineinzugehen. Ich kämpfte mit mir. Gehörte
ich auch zur Kategorie der Opfer? Ein Schauder überlief mich,
wenn der kleinste Gedanke in mir auftauchte, der mich auf
die Seite der Nazis stellen wollte. Es ist wahr, ich lebte frei
wie ihresgleichen im Glanz ihrer Welt. Aber was war mit
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meiner geschundenen Seele, mit meinem Schmerz, meinem
stillen Leid? Was war mit meinen geraubten Eltern, was mit
der verlorenen Zeit, der beschädigten Zukunft?
Eine neue Sorge nagte an mir. Wie würden mich die Über-
lebenden der Lager aufnehmen? Würden sie mich als ihnen
gleichrangig betrachten? Wäre ich in ihrer Gesellschaft mit
mir selbst im reinen? Sie hatten gelitten, waren gedemütigt
und gefoltert worden, hatten unablässig an der Schwelle des
Todes gestanden, während ich mit ihren Mördern Umgang
pflegte und am Radio klebte, um ihrem Siegesgebrüll zu
lauschen. Welch furchtbarer Widerspruch! Vielleicht war ein
Brückenschlag unmöglich.
Meine Erklärungen beschwichtigen meinen schmerzhaf-
ten Gewissenskonflikt etwas, konnten ihn aber nicht lösen.
Schließlich entschied ich, daß auch ich ein Opfer der Verfol-
gungen und der braunen faschistischen Tyrannei war und ging
zu dem Komitee, das sich um die Überlebenden kümmerte.
Dessen Büro sah aus wie ein mit Lebensmitteln erster Güte
und Kleidern vollgestopftes Vorratslager. Politische Gefange-
ne, die aus den Konzentrationslagern zurückgekehrt waren,
hatten diese Einrichtung geschaffen und verwalteten sie mit
den restlichen Sympathisanten der örtlichen Sozialdemokraten
und Kommunisten.
Ich stellte mich unter meinem echten Namen vor und
gab meine wahre Herkunft an. »Was?! Du bist der kleine
Sally der Familie Perel?« fragte mich fröhlich einer von
ihnen. »Ich erinnere mich an dich, mein Lieber. Ich kann-
te deinen Vater sehr gut.« Ohne nach einem Beweis oder
einer Erklärung zu fragen, schlug er mir vor, mir neue
Kleider auszusuchen. Man machte mir auch ein großes
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Lebensmittelpaket zurecht. Ich wählte ein sehr hübsches
Hemd, einen neuen Anzug und andere Sachen. Zwei Wo-
chen nach der Befreiung zog ich endlich meine Uniform
aus und trat in mein neues Leben.
Doch als ich diesen Weg einschlug, wußte ich nicht, wel-
che Schwierigkeiten mich erwarteten. Nach und nach ging
mir die Bedeutung meines wundersamen Überlebens auf. Ich
freute mich.
Meine Gespräche mit den Überlebenden der Konzentrati-
onslager verliefen in einer ruhigen Atmosphäre. Sie baten mich,
am Aufbau weiterer Hilfsbüros in der Stadt teilzunehmen.
Ich stimmte gerne zu. Sie hatten vor, eine Liste der örtlichen
Nazi-Verbrecher aufzustel en und sie bei den militärischen Son-
dergerichten anzuzeigen. Wir beschlossen auch, dem
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