Ich war nur kurz bei Paul
gar nicht gewöhnt.«
Zärtlich sah seine Mutter ihn bei diesen Worten an. »Mein Großer, immer um seine Mutter besorgt. Das ist lieb von dir, und ich weiß das auch anzuerkennen. Aber erstens kann ich nicht schon jetzt, wo ich die neue Arbeit doch erst angefangen habe, Urlaub nehmen und zweitens finde ich, solltest du die Verbindung zu deinem Vater und auch zu deinen alten Freunden nicht abreißen lassen - denk doch nur an deinen Freund Justin Hofer.«
»Justin!«, empörtes Schnauben ließ seine Mutter aufhorchen. »Habt ihr euch gestritten?«
»Nö, das nicht! Aber der Idiot hat es doch auch nicht nötig, sich einmal bei mir zu melden. Ich hab ihm schon mehrere SMS geschickt, aber glaubst du etwa, der antwortet?«
»Dann ruf ihn an, vielleicht ist seine Handy-Karte gerade nicht aufgeladen. Ich finde, du solltest fahren, wenn es dir dann doch nicht gefallen sollte, kannst du ja jederzeit zurückkommen. Ein Anruf, und ich hole dich wieder ab, okay?«
»Und was ist mit dir?«
»Da mach dir mal keine Sorgen; ich werde das schon packen. Zwei Wochen sind ja nicht die Ewigkeit.«
***
So kam es, dass Ralf dann doch die Einladung annahm. Sein Vater holte ihn am ersten Ferientag ab. Während der Fahrt sprachen sie kaum.
Die Begegnung mit seinem Freund Justin Hofer verlief enttäuschend. Gleich am Tag seiner Ankunft in Silberstedt, war Ralf mit dem Fahrrad, das er noch hier im Schuppen stehen hatte, zu ihm geradelt. Die Begrüßung verlief spröde. Wo war bloß der Geist ihrer alten Freundschaft geblieben?
Sie berichteten sich ein paar Dinge, die sich in der Zeit ihrer Trennung in ihrer beider Leben abgespielt hatten, dann wussten sie sich nichts mehr zu erzählen. Justins Mutter, Ralf mochte sie immer sehr, versuchte ein paar Mal vermittelnd einzugreifen, aber die Fremdheit zwischen ihnen ließ sich an diesem Tag jedenfalls nicht vertreiben.
Nach einer knappen Stunde stockenden Gespräches fuhr Ralf beklommen davon und beschloss, sich erst einmal zu seiner Lieblingsecke im angrenzenden Staatsforst zu verziehen, um nachzudenken.
Sein Lieblingsplatz lag dort an der ersten Biegung, der mit starker Strömung in ihrem Bett dahin fließenden Waldach-Aue. Dort hatten sie oft zusammen gespielt und waren mit dem dicken Tampen, der von einem der Bäume herabhing, wie Tarzan über die Au geschwungen. Hier angekommen, ließ er das Fahrrad einfach zur Seite fallen und hockte sich auf einen flachen Stein.
Er liebte diesen Platz, es wurde ihm dort immer richtig warm ums Herz. Was war bloß geschehen, dass er mit seinem Freund nicht so wie sonst sprechen konnte? Justin hatte ihm gegenüber verschlossen und gekränkt gewirkt. Ralf konnte sich keinen Reim darauf machen, wieso.
Ob es ihm mit den anderen Jungen aus der ehemaligen Clique ebenso ergehen würde? Er hatte ja von Anfang an gezögert die Einladung seines Vaters anzunehmen - das hatte er nun davon! Und seine Mutter hatte ihn noch glauben gemacht, dass Justin nur kein Geld auf seiner Telefonkarte hatte. Pah, der hatte gar kein Interesse mehr an ihm.
Obwohl Ralf versuchte, seine aufsteigenden Tränen zu bekämpfen, gelang es ihm nicht. Plötzlich fühlte er sich jämmerlich allein und verlassen. Was sollte er hier in Silberstedt ? Vor ihm im gurgelnden Wasserstrom sah er die Reste des steinernen Staudammes, den sie im letzten Jahr gemeinsam aufgetürmt hatten. In der Mitte hatten sie ein kleines Wassermühlrad angebracht gehabt, das war jetzt verschwunden - aber der Damm aus Steinen war weitgehend erhalten geblieben. Wütend stand Ralf auf und machte sich daran, die Steine aus dem Au-Bett herauszunehmen und in wilder Wut in die Büsche zu werfen - als wollte er mit ihnen eine alte Erinnerung zerstören und vergessen machen.
Danach ging es ihm etwas besser, er bestieg wieder sein Fahrrad und fuhr mit trotziger Wut im Bauch ein einsames Cross-Rennen. Tief über seinen Lenker gebeugt preschte er über die altbekannten Pfade des Waldes. Er jagte wie ein Berserker und strampelte sich seine Wut und Enttäuschung über... Ja, worüber eigentlich genau? aus dem Leib. Justin war schuld, dieser Blödmann! Ralf entschloss sich zurück zu fahren.
Das Auto seines Vaters war nicht da - Barbara auch nicht. Nadine, seine zwei Jahre ältere Schwester, saß im Garten auf der Bank und schmökerte in ihrer STAGE. Lucie, die zehnjährige Tochter von Barbara, hatte die Ohrstöpsel ihres MP3-Players im Ohr und
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