Ich war seine kleine Prinzessin
Und nicht nur vor ihm, sondern vor Jungs
im allgemeinen. Ich glaube, am liebsten hätte er mir den Umgang mit ihnen
verboten. Und da ich meinen Vater liebte und ihm vertraute, begegnete ich jedem
Jungen mit Mißtrauen.
Dann lernte ich aber doch einen kennen,
den ich einfach umwerfend fand. Er war so alt wie ich und wirklich süß. Er tat
sehr erwachsen, aber ich hätte wetten können, daß er noch mit seinem Teddy im
Arm schlief. Eines Tages haben wir uns geküßt. Als ich es meinem Vater erzählte
— so wie ich ihm alles erzählte, ohne mir etwas dabei zu denken — , wurde er
furchtbar wütend. Ich sei wohl übergeschnappt, schrie er mich an, was mir denn
einfiele, ich hätte kein Recht dazu. Ich glaube, er war eifersüchtig. Eifersüchtig
auf den Jungen, der genauso alt war wie ich. Ich begriff nicht, weshalb er sich
so aufregte. Diesen einen Kuß konnte man doch nicht mit meiner Zuneigung zu ihm
vergleichen! Aber ihm machte das unwahrscheinlich zu schaffen. Er konnte den
Gedanken nicht ertragen.
Nicht lange nach unserem Streit hat
mein Vater mich geküßt, aber anders als bisher. Nicht wie ein Vater seine
Tochter, sondern wie ein Junge seine Freundin. Dieser Kuß war unzweideutig, da
gab es nichts mehr mißzuverstehen. Ich war zwölf damals. Einen Gleichaltrigen
durfte ich nicht küssen, aber mein Vater hatte das Recht, mir einen richtigen
Zungenkuß zu geben.
Als mich zum erstenmal ein Junge küßte,
war ich glücklich. Was für ein tolles Gefühl! Ich war kein Kind mehr, sondern
ein junges Mädchen. Ich war selig. Alle meine Probleme zu Hause erschienen mir
plötzlich nicht mehr so wichtig. Ich hatte jetzt andere Dinge im Kopf. Ich
konnte mitreden, ich war wie die andern, wie meine Schulkameradinnen, die alle
einen Freund hatten und immer gut drauf waren. Und genau das hat mein Vater
nicht ertragen. Er hatte Angst, ich würde ihn allein lassen, und dann wäre da
niemand mehr, der ihn liebt. Und aus unserer Heirat würde natürlich auch nichts
werden!
Mit seinen hirnrissigen, abartigen
Ideen hat er mir jene Zeit, den Beginn meiner Pubertät, verdorben. Ich war doch
gerade erst im Begriff, mich zu verändern, weibliche Formen anzunehmen, einen
Busen, Schamhaare zu bekommen. Ich war doch gerade erst im Begriff, die
Kinderschuhe abzustreifen.
Der Übergang von der Kindheit zur
Jugend ist eine bedeutsame Phase. Es ist die schönste Zeit des Lebens, die Zeit
der großen Emotionen, der Veränderungen, die Zeit, in der es soviel Neues zu
entdecken gibt. Aber das galt nicht für mich. Ich hatte weder das Recht noch
die Muße, an solche Dinge zu denken oder zu beobachten, wie ich heranwuchs. Ich
hatte andere Sorgen, ich mußte mich um Wichtigeres kümmern als um mich selbst
und meine Entwicklung.
Wenn ich heute darüber nachdenke, muß
ich sagen, ich finde es sehr traurig, daß ich diese Übergangsphase von der
Kindheit zur Jugend nicht erleben durfte. Ich war Nelly, das kleine Mädchen,
und eines Morgens wachte ich auf und war Nelly, die Frau. Es ist alles viel zu
schnell gegangen. Innerhalb von vier Wochen — seit Mama im Krankenhaus war — hatte
sich mein Leben radikal verändert. Noch einmal flehte ich meine Mutter an, so
schnell wie möglich nach Hause zu kommen.
Wie ein
Überfall
Wäre meine Mutter nicht krank geworden,
wäre es nie so weit gekommen. Mama hätte gesehen, was los war, sie hätte meinen
Vater durchschaut. Ich ahnte zwar dunkel, daß sein Verhalten nicht normal war,
aber sicher war ich mir nicht. Ich fragte mich, wie andere Väter mit ihren
Töchtern umgingen. Was sollte ich tun? Mit wem konnte ich darüber reden? Wie
sollte ich mich meinem Vater gegenüber verhalten? Ich hatte niemand, dem ich
mich hätte anvertrauen können. In meiner Ratlosigkeit suchte ich die Schuld bei
mir. Vielleicht hatte ich die Dinge auf die Spitze getrieben, hatte mich zu
sehr in meine Rolle als kleine Frau hineingesteigert. Ich hatte es hingenommen,
daß Papa mich auf den Mund küßte oder mir den Po tätschelte. Ich, Nelly, zwölf
Jahre, hatte es versäumt, ihn in die Schranken zu weisen.
Und jetzt war es zu spät. Ich konnte
die Entwicklung nicht mehr aufhalten. Ich brachte es nicht über mich, meinem
Vater zu sagen, daß er offensichtlich den Verstand verloren hatte. Er war ja
nicht gewalttätig, aber irgend etwas stimmte bei ihm nicht. »Das ist nicht
richtig, was du da tust!« hätte ich ihm sagen müssen. »Das darfst du nicht!«
Aber ich schaffte es nicht. Ich war total durcheinander, völlig
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