Ich war seine kleine Prinzessin
aber sah ich das Leben — unser
Leben — ausschließlich durch die Augen meines Vaters. Ich liebte ihn. Darin
bestand für mich kein Zweifel. Ich liebte ihn, wie ein kleines Mädchen seinen
Vater nur lieben kann, aber nicht wie ein Erwachsener einen anderen
Erwachsenen. Ich war rundherum glücklich. Daß sich meine Eltern nicht
sonderlich gut verstanden, belastete mich nicht allzusehr. Ich war ein
fröhliches Kind, ich hatte viel Spaß und lachte gern. Und, was für mich das
wichtigste war, ich hatte eine Familie. Ich konnte einen Vater und eine Mutter
vorweisen und einen Großvater und eine Großmutter obendrein. Ich weiß noch, in
der Schule gab es Mädchen, die einen niedergeschlagenen Eindruck machten, und
wenn man sie fragte, was sie denn hätten, antworteten sie: »Meine Eltern haben
sich scheiden lassen.« »Meine Eltern sind nicht geschieden«, erwiderte ich dann
ganz stolz. »Sie sind immer noch zusammen, und sie werden immer
zusammenbleiben.«
Davon war ich trotz der ewigen
Streitereien fest überzeugt, weil meine Mutter ständig betonte, wie wichtig
eine Familie für ein Kind sei. »Ein Kind muß einen Vater und eine Mutter haben.
Es braucht beide Eltern«, sagte sie immer wieder. Und da Papa beteuerte, er
liebe Mama trotz allem, was sie ihm antue, dachte ich, es würde schon irgendwie
weitergehen wie bisher auch. Ich würde Papa über die schlechten Zeiten, wenn
Mama ihn schikanierte, hinweghelfen, indem ich besonders lieb zu ihm sein
würde. Im Grunde war alles ganz einfach. Das war nur eine Frage der
Organisation.
Jeder hatte seine Rolle: Papa brachte
das Geld nach Hause und liebte mich. Mama hatte ein Pflegekind, ein kleines
Mädchen namens Leila, aufgenommen, um das sie sich kümmerte; außerdem führte
sie den Haushalt und war für Laury und Sandy zuständig. Meine Geschwister
wiederum hatten die Aufgabe, Mama zu lieben. Sie würden ihr zur Hand gehen, bis
wir groß waren. Und ich, ich war für Papa da. Ich wollte ihm Kraft geben, damit
er durchhielt. Nicht aus Berechnung, sondern weil ich ihn wirklich liebte.
Papa hat grüne Augen, wunderschöne
grüne Augen, und braunes Haar. Er ist groß, kräftig, muskulös. Ein stattlicher
Mann, aber keiner, der einem Angst einjagte. Im Gegenteil, auf ein kleines
Mädchen wie mich wirkte er beruhigend. Er war, wie soll ich sagen, ein
attraktiver Mann. Wenn ich Freundinnen mit nach Hause brachte, plauderte und
scherzte er mit ihnen. Ich war ungeheuer stolz auf ihn, ich genoß es, ihn als
meinen Vater vorzustellen. Nicht, daß er wirklich Format gehabt oder sich
besonders schick gekleidet hätte; ich meine, wir hatten nur ein bescheidenes
Auskommen. Aber er hatte etwas, das mich mit Stolz erfüllte; vielleicht war es
meine Liebe zu ihm.
Diese Zuneigung, die uns verband, muß
ich näher beschreiben. Es war Zärtlichkeit. Papa war zärtlich und liebevoll,
und er war immer für mich da. Ich wußte, ich konnte mit allen meinen Sorgen zu
ihm kommen. So jemand zu haben ist für ein Kind eine tolle Sache. Aber das galt
nur für mich, nicht für meine Geschwister. An ihnen zeigte er kein Interesse,
ihnen schenkte er keine Aufmerksamkeit und hatte auch keine Geduld mit ihnen.
Einmal fiel meine Schwester auf dem
Schotterweg vom Rad. Sie blutete am Kinn und weinte und schrie. Als sie nach
Hause kam, stand mein Vater nicht einmal auf. Er sah das tränenüberströmte,
blutverschmierte Gesicht seiner Tochter und war der Meinung, das sei nicht so
schlimm. Zum Glück war meine Mutter gleich zur Stelle. Sie fuhr Sandy ins
Krankenhaus zur Unfallstation. Die Wunde mußte mit drei Stichen genäht werden.
Meinen Vater ließ das völlig kalt.
Ich reagierte ähnlich auf die Sorgen
und Nöte meiner Mutter und meiner Geschwister. Wenn sie krank waren, sorgte ich
mich nicht weiter um sie. Aber wenn es Papa nicht gutging, war mir nichts
zuviel für ihn. Ich brachte ihm das Essen ans Bett, schlug die Decke zurück,
wenn er schwitzte, deckte ihn eilig wieder zu, wenn er fror. Ich las ihm jeden
Wunsch von den Augen ab. Ich war seine kleine Krankenschwester. Man könnte das
als eine Art Spiel zwischen uns bezeichnen. Wir seien wie »Vater und Mutter«,
sagte Papa dann immer, und er fügte hinzu, daß ich »Mamas Platz einnähme«. Ich
war ein richtiges kleines Frauchen...
Der Satz setzte sich in meinem Kopf
fest. Ich wußte zwar nicht genau, was Papa damit meinte, aber nach einer Weile
hielt ich mich tatsächlich für die Frau im Haus. Und als Mama den Unfall hatte
und ins
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