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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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durcheinander. Den
Psychiatern muß man alles sagen. Sogar das Unsagbare. Denn dort hat das Übel
seine Wurzeln. Ich weiß wohl, daß sie es nicht ausreißen werden. Dieser Mann
hat mich hinter eine für immer verschlossene Tür gekettet. Sollte ich diese Tür
eines Tages öffnen, wird es auch an mir sein, sie wieder zu schließen. An mir.
Allein. Meine Tür, mein Schlüssel.
    Mama wringt ein Wischtuch sorgfältig
nach allen Seiten aus, faltet es auf dem Küchentisch auseinander und wieder
zusammen.
    »Die Pille? In deinem Alter willst du
die Pille? Wegen Bruno?«
    »Ja. Papa weiß Bescheid. Er meint, du
sollst mich zu einem Frauenarzt mitnehmen, damit er mir die Pille verschreibt.«
    »Nathalie... du...«
    »Mama, ich kenne Bruno jetzt ein Jahr
lang.«
    »Ja, sicher, aber...«
    »Das ist besser, als Großmutter zu
werden, oder nicht?«
    »Wie du dich verändert hast...«
    »Ich werde halt älter. Papa ist auch
damit einverstanden, daß Bruno am Wochenende hier im Hause schläft, wenn er
Urlaub hat.«
    »In deinem Zimmer?«
    »Mama, ich werde dieses Jahr siebzehn...«
    »Liebst du ihn wenigstens? Sag, liebst
du ihn?«
    »Ja.«
    »Bist du deshalb so traurig, wenn er
nicht da ist? Liebst du ihn so sehr?«
    »Also, Mama, die Pille? Bist du
einverstanden?«
    Ich brauche diese Pille. Ich schicke
mich drein. Ohne sie gehe ich einer Katastrophe entgegen. Vor allem jetzt. Seit
Bruno bei der Armee ist, darf ich alle Register auskosten. Ich muß noch lange
durchhalten. Widerstand leisten, wie die Widerstandskämpfer, die Revolutionäre,
auf den Tag der Befreiung hoffen. Ich habe einen geheimen Plan für meine
Befreiung. Mich verloben, warten, bis ich achtzehn bin, heiraten und mit Bruno
fortgehen. Alles wird ein Ende haben, wird makellos sein, ich werde nichts
zerstört haben, niemandem Schaden zugefügt haben, vor allem ihr nicht, Mama.
    »Weißt du, irgendwann demnächst werden
wir uns verloben. Bald... nach dem Wehrdienst...«
    Mama ist beruhigt. Ihr Baby ist zu
schnell groß geworden, aber was soll’s, so ist das heute eben.
    »Nehmen deine Freundinnen auch die
Pille?«
    »Fast alle, Mama, in der Sekunda und
der Prima, das ist normal. Sogar die Lehrer sind einverstanden. Da müßte man
heutzutage schon sehr altmodisch sein, wenn man seine Tochter nicht schützen
wollte. Ich bin nun mal in dem Alter.«
    Sie streicht mir übers Haar. Ich würde
mich gerne an sie lehnen und ausheulen. Aber sie würde mich nicht verstehen.
Wir führen ein klassisches Mutter-Tochter-Gespräch. Sie hält mich für
glücklich, verliebt und alt genug, die Pille zu nehmen. Was gibt es Normaleres
in dieser normalen Küche, in diesem normalen Haus, inmitten einer normalen
Familie? Wenn ich weine, jetzt, hier, würde nichts mehr normal aussehen.
    »Ich werde einen Termin vereinbaren.«
    Mama faltet ihr Wischtuch auseinander
und hängt es an der Wand auf. Ganz normal.
    Dieser Besuch beim Frauenarzt war
entsetzlich. Entsetzlich. In einen Schleier von Entsetzlichkeit gehüllt. Ich
sagte mir: »Er wird es sehen. Er wird das Fürchterliche in deinem Bauch sehen.
Das muß man einfach sehen.« Blödsinnige Gedanken schossen mir durch den Kopf;
beispielsweise, er würde nach der Untersuchung sagen: »Dieses Mädchen schläft
mit seinem Vater.« Als wenn das Foto dieses Dreckskerls in mich eingebrannt
gewesen wäre. Panische Angst! Sich vor einem Richter ausziehen, auf diesen Tisch
steigen, mit seinen Stützen, diesen fürchterlichen Dingern, um die Beine
daraufzulegen... Natürlich hat er nichts gesagt. Nur festgestellt, daß ich
nicht mehr Jungfrau war. Er hat eine Menge Fragen über meine Periode gestellt,
hat eine Verordnung für eine Blutentnahme ausgeschrieben und eine andere für
die Pille. Endlich hatte ich sie. In der Apotheke schaute ich auf den Namen:
Stediril. Sterilität. Mit einem Wort: etwas Sauberes.
    Mein kleiner Bruder spielt mit der
Schachtel blauer Pillen, die er in der Schublade meiner Kommode entdeckt hat.
    »Frédéric, gib das wieder her...«
    »Oh... ich weiß, wofür man das braucht...
Das sind Bonbons, um die Babys rauszumachen, die man im Bauch hat...«
    »Wo hast du denn das her?«
    »Wieso hast du so was? Das nehmen doch
die Mamas.«
    »Aber nein. Die Mädchen genauso, wenn
sie groß sind.«
    Er hat mich bestürzt angeschaut. Seine
Schwester mit »blauen Bonbons, um die Kinder aus dem Bauch rauszumachen«. Das
war zu kompliziert für ihn. Ich glaube, daß die sexuellen Beziehungen im Alter
von neun oder zehn Jahren noch etwas

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