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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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seltsam aufgewühlt. Ein Alptraum in Rot. Es gab kein
Baby mehr.
    War es eine Erleichterung? In jenem
Augenblick, auf dem Bett des Krankenzimmers, wußte ich nicht mehr, was ich
denken sollte. Im übrigen konnte ich nicht mehr nachdenken. Es war zu
fürchterlich, als daß ich einen klaren Gedanken hätte fassen können.
    Man stelle sich nur einmal vor, ich
hätte möglicherweise ein Kind empfangen, ausgetragen, aufgezogen, von dem ich
wahrscheinlich nie gewußt hätte, ob es von meinem Vater oder von Bruno war. Ob
es im Horror oder in Liebe empfangen wurde. Mit sechzehn war ich überzeugt, daß
dies ein Mittel war, um zu entfliehen. Heute... Heute möchte ich lieber nicht
mehr daran denken. Wirklich nicht. Ich will kein Problem aufrollen, das
schmachvoll gestorben ist.
    »Mama? Ich bin’s.«
    »Was ist los? Was hast du? Bist du
krank?«
    »Nein.«
    »Du bist ganz blaß, Nathalie, du bist
krank! Was ist passiert?«
    »Eine Freundin ist von einem Auto
überfahren worden, ich hab’ solche Angst gehabt.«
    »Du hast geweint. Ich sehe doch, daß du
geweint hast...«
    »Das geht vorüber, Mama, es war so
furchterregend, weißt du, ich habe gemeint, sie stirbt.«
    »Erzähl mir...«
    »Da gibt es nichts zu erzählen. Was
soll ich dir sagen... Sie ist ins Krankenhaus gebracht worden...«
    »Wer ist es?«
    »Du kennst sie nicht.«
    »Ist sie schwer verletzt?«
    »Sie hat viel Blut verloren... aber
jetzt geht es. Es geht...«
    Lügen, immer. Lügen, wie man Alkohol
trinkt. Wie man raucht, um sich zu betäuben.
    Mama beruhigt sich. Er beobachtet mich
scharf. Ich brauche ihn nicht anzusehen. Er hat verstanden.
    Mama ist in der Küche beschäftigt, er
zieht mich hinaus:
    »Ich gehe zu deiner Tante, du kommst
mit mir, wir müssen uns sprechen.«
    »Ich bin müde, ich kann nicht mehr...«
    »Ich will wissen, was beim Arzt
passiert ist. Los, komm schon, und mach keine Geschichten.«
    Im Auto? Kreuzschmerzen,
Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, und er glaubt mir nicht.
    »Alles Quatsch... Dieser Arzt hat dir
irgendwelchen Mist erzählt. So etwas gibt es nicht...«
    »Frag ihn selber, wenn du mir nicht
glaubst.«
    Verdammte Scheiße. Scheiße. Was glaubt
er denn? Daß ich herumphantasiere? Und dann schleppt er mich auch noch zu
seiner Schwester. Seiner Mutter-Schwester, seiner Ammenschwester, die ihn
wundervoll findet, nur weil sie ihn aufgezogen hat. Ich hasse sie. Wenn er
jemanden niederschlüge, würde sie sein Opfer vollends zur Strecke bringen, nur
um ihm einen Gefallen zu erweisen.
    Der Fernseher. Zu allem übrigen läuft
auch noch der Fernseher. Und in diesem verfluchten Fernseher spricht ein
schwangeres Mädchen von ihrer Lage, die sie in allen Einzelheiten schildert.
Ich würde dieses ganze Wohnzimmer vollkotzen, wenn ich nur die Kraft dazu
hätte. Ich bin krank, krank, krank in meinem Körper und meinem Kopf.
    Rückfahrt im Auto.
    Es versteht sich wohl von selbst, daß
du mich mit deinen allwöchentlichen Schweinereien nicht behelligst.
    Schweigen. Die dunkle Landstraße. Der
weiße Mercedes. Bruno wird zur Bundeswehr gehen. Bruno verläßt mich, er läßt
mich fallen wegen einer Uniform. Wir werden uns nur noch alle vierzehn Tage
sehen. Ein schwacher Trost für mich.
    »Es wird Zeit, daß du die Pille nimmst.
Ich habe dieses Theater mit deiner Periode satt. Sprich mit deiner Mutter
darüber. Sag ihr, daß es wegen Bruno ist.«
    Das hat mir noch gefehlt. Mach, daß du
weg kommst, du Dreckskerl, geh in Deckung. Bring dich in Sicherheit. Laß deine
angebetete Tochter im Dreck waten und vollständig vor die Hunde gehen. Die
Pille. Was ändert das für mich? Die Pille bedeutet sexuelle Freiheit. Ich habe
keine sexuelle Freiheit. Ich mache nicht gerne Liebe, weder mit ihm noch mit
Bruno. Selbst mit Bruno bleibe ich im Dunkeln, ich will nicht, daß er mich
nackt sieht. Selbst bei Bruno gibt es Gesten, die ich nicht machen kann, Worte,
die ich nicht aussprechen kann. Es ist unnötig, daß ich versuche zu sterben.
Ich bin schon tot.
    »Liebe machen«, »Hure«, »einen Orgasmus
haben«, »Samenerguß«. Ich kann das nicht aussprechen. Ich zwinge mich hier,
diese Worte niederzuschreiben, um Ihnen meinen Ekel verständlich zu machen,
aber jeder Buchstabe ist für mich eine Quälerei. Weil er sie ausgesprochen hat,
bevor ich alt genug war, um sie zu verstehen. Worte der Qual — das gibt es.
»Orgasmus« ist ein schmutziges Wort. Noch nicht einmal vor einem Psychiater
kann ich es richtig aussprechen. Ich bringe die Buchstaben

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