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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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sehr Unklares sind. Ich sage, ich glaube,
weil ich selbst keine Erinnerungen mehr daran habe. Vorher war ich ein Baby.
Danach, zwischen zwölfeinhalb und fünfzehn, ist ein schwarzes Loch. Die
Zwangsvorstellung von der Qual hat alles ausradiert, das nicht Qual war. Von
meiner Kindheit ist mir nur noch mein Teddybär geblieben. Der Inzest hat alles
übrige für immer ausgelöscht: Den Alltag, die kleinen Belanglosigkeiten, die
Gewohnheiten, die Gesichter der anderen. Ich befand mich in einem Tunnel. Ich
sah wieder Licht, als Bruno in mein Leben trat. Ein offenes Fenster zur
Freiheit erlaubte mir endlich, die Welt zu sehen. Mich wieder bewußt für andere
zu interessieren und nicht mehr im Zustand eines wachen Alptraumes zu leben.
Aber der Alptraum ging trotzdem weiter.
    Die Tür meines geheiligten Zimmers
öffnet sich, und der Umriß eines Bademantels zeichnet sich ab. Alles in mir
sperrt sich dagegen. Es darf nicht sein, daß er hier hereinkommt. Das ist mein
privater Bereich. Bruno, das einzige, was mich am Leben hält.
    Ich entwische hinaus, bevor er
hereinkommt.
    »Zieh dich aus.«
    Ein Befehl. Ruhig geht er in Richtung
seines Büros davon. Ich trödle herum. Im Nachthemd gehe ich ins Zimmer meiner
Schwester. Meine Cousine ist bei ihr, die beiden Mädchen unterhalten sich.
    Meine Schwester ist erstaunt:
    »Was tust du da? Schläfst du nicht?«
    »Ich will Papa um Geld bitten. Ich
brauch’ ein Paar Schuhe. Für vierhundert Francs.«
    Wir sprechen über Schuhe. Sie müssen
schlafen gehen. Wie er habe ich gelernt, Risiken zu vermeiden. Ich bleibe so
lange bei ihnen, bis ich sicher sein kann.
    Im Büro liegt das blaue Federbett auf
dem Boden. Das Federbett ist das Zeichen für »alle Register«. Ich komme unters
Messer, wenn das blaue Federbett da liegt. Das erinnert mich an meine
Blinddarmoperation. Als ich unters Messer kam, war ich wehrlos, hatte
Schmerzen, man schläferte mich ein, und mir wurde der Bauch geöffnet. Das ist
für mich dasselbe. Ich komme unters Messer. Er ist der Anästhesist, der Shit
ist die Betäubungsspritze, er ist der Chirurg, ich werde Schmerzen haben und
danach zur Erholung schlafen gehen.
    Er hat eine Videokamera aufgetrieben.
Er will sein eigenes Pornokino. Besser die Kamera, als sein Flittchen zu sein.
Ich habe heute abend Glück. Du hast Glück, Nathalie. Sieh es doch von dieser
Seite. Eines Tages werde ich in die Küche gehen und dieses Messer nehmen. Ich
werde es richtig halten, mit der Klinge nach oben.
    Wenn diese verdammte Kamera ein Messer
wäre, würde sie dich in hundert Teile zerstückeln.
    Wir wohnten nun seit zwei Jahren in
dieser Stadt, seit zwei Jahren liebte ich Bruno. Das Leben mit meinem Vater
wurde immer schwieriger, nicht nur für mich, sondern auch für meine Mutter. Sie
hatte sein Verhalten satt. Manchmal hörte ich sie ganz allein in der Küche vor
sich hinschimpfen; sie sagte dann dieselben Sätze wie ich: »Hab’ genug von
diesem Dreckskerl im Haus...«
    Für sie war er also ebenfalls ein
Dreckskerl. Ich entdeckte, daß sie ihn haßte. Mama war jung, hübsch, warum ließ
sie sich also nicht scheiden? Sie hatte es schon einmal versucht, und es war
ihr meinetwegen mißglückt. Auch sie saß in der Falle: Da waren drei Kinder, die
sie daran hinderten abzuhauen, glücklich zu sein. Und zu jener Zeit ahnte ich
auch noch nichts von ihrem heimlichen Martyrium.
    Sonntag war der unerträglichste Tag für
uns alle. Kaum war er aufgestanden, fing er an zu poltern. Der Kaffee war nicht
stark genug oder er war zu stark. Der Kaffee... Niemals wird mich ein Mann
bitten, einen Kaffee zu machen. Meinem Vater einen Kaffee machen bedeutete,
mich seiner blödsinnigen Autorität zu beugen. Er schleuderte es hin, wie man
einem Sklaven einen Befehl gibt:
    »Nathalie, mein Kaffee!«
    Ich hasse Kaffee, ich hasse Brillen mit
Metallfassung, ich hasse Männer in Autos der Marke Mercedes. Was ich mag? Das
Lachen von Kindern. Kinderlachen ist etwas wundervolles. Es reinigt alles. Wenn
mein kleiner Bruder sich vor Lachen kugelte, begleitete ich ihn wie die zweite
Stimme in einem Lied. Wir lachten, wir lachten, bis wir Tränen in den Augen
hatten.
    Und der andere, der Vater, trampelte
auf allen herum. Auf seiner Frau, seinen Töchtern, seinem Sohn. Nichts in der
Familie paßte ihm. Jeder hatte den Mund zu halten, und ihm zu gehorchen, der
wie wahnsinnig »schuftete«, um uns alle zu ernähren. Ich allein wußte, warum er
wie ein Wahnsinniger schuftete: für den Shit, die Pornos, die

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