Ich war zwölf...
Nathalie. Nathalie, die immer ein Geheimnis mit sich
herumträgt, die zum Schweigen verurteilt ist, zu dem Spiel »alles ist in
Ordnung, ich bin wie alle anderen«.
Montagmorgen. Ich habe Angst, alleine
hinzugehen. Wenn ich herauskomme, werde ich zurück in die Schule müssen, wie
immer.
Valérie, ich muß sie finden.
»Also was? Bist du wirklich schwanger?
Ich hab’ am Telefon nichts verstanden, wer ist es? Wer ist der Vater?«
»Bruno.«
»Du siehst schlecht aus, du bist ganz
weiß. Um wieviel Uhr ist es?«
»Um zehn. Ich hab’ Angst.«
»Ich bleib’ bei dir.«
»Ich hab’ Schiß. Er wird mich
untersuchen.«
»Hör mal, das ist nicht so schlimm. Die
Ärzte sind das gewöhnt. Ich warte auf dich. Ich versprech’s dir.«
Das Gebäude, das Schild des Arztes.
Gynäkologie-Geburtshilfe.
Warten. Es ist noch früh, niemand ist
im Wartezimmer.
Ein sympathisches Gesicht, lächelnd.
Zum Glück ist der Kerl nett. Das ist schon etwas. Ich hatte Angst, auf einen
alten Knacker zu treffen.
Valérie drückt mir die Hand:
»Los... Geh schon, ich bleib’ hier.«
Ich gehe ins Sprechzimmer, er bittet
mich, Platz zu nehmen.
»Nun?«
Ich hole den Test aus meiner Tasche,
ich reiche ihn dem Arzt. Er nickt mit dem Kopf.
»Wie alt sind Sie?«
»Sechzehn.«
»Ihre Familie weiß Bescheid?«
»Mein Vater, er hat den Termin
vereinbart.«
Er wirkt erstaunt.
»Ihre Mutter ist nicht mit Ihnen
gekommen.«
»Wir haben’s ihr noch nicht gesagt.«
»Erzählen Sie mir von dem Jungen.«
Ich erzähle von dem Jungen so gut ich
kann. So und so heißt er, wir lieben uns. Die Familie... die Familie, ach, die
wird’s schon schlucken.
Er legt den Test auf seinen
Schreibtisch und klärt mich auf, wobei er mit der Spitze seiner Füllfeder
darauf deutet:
»Wenn der Test negativ ist, dann ist er
es tatsächlich, verstehen Sie? Das heißt, daß die Frau nicht schwanger ist. Das
ist sicher. Aber wenn er positiv ist, muß man eine Untersuchung machen, eine
Blutabnahme und einen Urintest im Labor. Das wollen wir jetzt tun. Bitte ziehen
Sie sich aus, ich muß Sie untersuchen.«
Ich will mich nicht vor diesem Mann
ausziehen.
»Genieren Sie sich nicht, meine Kleine.
Ich sehe täglich zig Fälle wie Sie. Los, Courage, das haben Sie schnell hinter
sich.«
Ich muß eine Ewigkeit gebraucht haben,
um nach und nach meine Klamotten auszuziehen. Er sprach die ganze Zeit mit mir,
um mich aufzumuntern. Und plötzlich, noch bevor ich auf den Untersuchungstisch
steigen konnte, habe ich so etwas wie ein merkwürdiges Frösteln gespürt, eine
Schwäche in den Beinen und sofort danach war meine Unterwäsche blutdurchtränkt.
Überall, eine Blutung, ein warmes und schales Rinnsal. Ein Horror. Ich war
völlig verstört. Woher kam das? Woher? Seit drei Wochen wartete ich darauf, Tag
für Tag und ausgerechnet jetzt mußte es kommen, vor diesem Arzt, der genauso
überrascht war wie ich. Von Panik ergriffen brach ich in Tränen aus. Es war
fürchterlich, halbnackt vor diesem Mann zu stehen, mit dem ganzen Blut, das auf
klägliche Weise aus mir herausfloß. Er hat mir geholfen. Er gab mir etwas zum
Waschen. Riesige Baumwollbinden. Ich stand da wie eine Idiotin und hörte ihm
zu, schämte mich zu Tode und war total verängstigt. Mit leerem Kopf und leerem
Körper verschwamm mir alles vor den Augen, gleich würde ich in Ohnmacht fallen.
Er hat mich zuerst beruhigt. Ich habe Tabletten geschluckt, um die Blutung zu
stoppen. Ich schluchzte in mein Wasserglas während er versuchte, mir alles zu
erklären. Seiner Ansicht nach hatte ich eben eine Fehlgeburt gehabt. Ich war
sicherlich noch zu jung, um ein Kind zu behalten. Der psychische Schock der
Untersuchung hatte sicherlich auch dazu beigetragen. Ich benötigte deshalb
zusätzliche Untersuchungen, eine Ultraschalldiagnostik des Beckens.
Für mich kam es nicht in Frage, mich
von anderen Ärzten untersuchen zu lassen. Nie mehr würde ich zu einem
Frauenarzt gehen. Nie mehr. Ich wollte in die Schule zurückfahren, er hat mir
Tabletten verschrieben, mir ein paar Worte für die Schulschwester mitgegeben.
Und ich machte mich mit meiner Fehlgeburt davon. Man hat mich bis zum Ende des
Unterrichts im Krankenzimmer untergebracht. Ich habe die Krankenschwester
angefleht, meine Mutter nicht zu benachrichtigen. Sie hat es mir zugesichert.
Ich war vollkommen ausgehöhlt, krank, erschöpft von der ganzen Seelenqual. Ich
versuchte, zur Ruhe zu kommen, auf der Pritsche zu schlafen; der Anblick von
all dem Blut hatte mich
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