Ich war zwölf...
die
musterhafte Angstelite, sogar an den Feiertagen schuftet sie. Das geschieht ihr
recht. Sie hätte nur ihren Mund zu halten brauchen, als sie jünger war, anstatt
zu sagen: »Ich mag Buchhaltung, Papa, du wirst keine Sekretärin nötig haben...«
Ich stapele Rechnungen und Briefe
aufeinander, dann gehe ich auch ein bißchen Sonne schnappen.
Chantal, die Schwägerin von Tante
Marie, gefällt mir sofort. Sie ist zweiundzwanzig, sie wohnt an der Küste, nah
am Meer, und ihr Mann ist Matrose. Begeistert und voll Wärme erzählt sie von
ihm. Sie wirkt glücklich. Glückliche Menschen sind faszinierend. Die Côte d’Azur
ist faszinierend. Hier sind wir von Bergen umgeben. Ich beginne, vom Meer mit
seinen Möwen zu träumen, von einer einsamen Insel.
Unvermittelt sagt Chantal:
»Soll ich die Kinder für die
Osterferien ans Meer einladen?«
Die Ärmste, sie weiß nicht, was sie da
aufs Tapet gebracht hat. Mama wird sicherlich nein sagen, sie möchte nicht von
uns getrennt sein. Was ihn betrifft, weiß ich die Antwort im voraus. Es ist
Monatsende, die ganze Buchführung muß dem Buchprüfer vorgelegt werden. Er wird
mich nicht einfach so gehen lassen. Die Gelegenheit, mich ganze Nächte lang einzusperren,
ist zu günstig. Dieser Besessene braucht mich immer nötiger. Mama läßt ihn
abblitzen, sie will ihn nicht mehr in ihrem Bett. Mach dir keine Illusionen, du
Ärmste, Ferien am Strand gibt’s nicht für dich... Eine Woche Freiheit, weit weg
von seiner dreckigen Visage... Eine Woche, um aufzublühen, zu lachen, was
könnte ich dem lieben Gott geben, damit er’s zuläßt?
»Papa, wir sind noch nie irgendwohin
gefahren... Nur eine Woche...«
»Ich habe nein gesagt, verstanden? Wer
wird mir die Buchhaltung machen, wenn du dich am Strand amüsierst? Du bleibst
zu Hause, punktum.«
Bruno ist in seiner Kaserne. Mama sagt
nichts. Keiner hilft mir. Ich brauche diese Woche Freiheit.
»Also gut, hör zu, ich schlage dir
folgendes vor: Heute abend arbeite ich ganz zügig, morgen auch, ich mache alles
fertig, und am Dienstag läßt du mich mit Chantal fahren...«
Chantal lächelt meinen Vater
besänftigend an.
»Sie verdient es... oder nicht?«
»Kommt gar nicht in Frage. Dein Bruder
und deine Schwester, meinetwegen, aber nicht du.«
Chantal wirft ihm einen vielsagenden
Blick zu. Ich übersetze: »Armes Schwein, blöder Kerl.« Sie hat es gespürt, sie
mag ihn nicht. Ich mag Leute, die meinen Vater instinktiv, von der ersten
Begegnung an, nicht mögen. Das verschafft mir ein Gefühl der Erleichterung.
»Geh wieder an die Arbeit, wo du schon
so schlau bist... Du bist noch nicht fertig... Du glaubst wohl, Arbeit ist das
reine Vergnügen?«
Ein kalter Wind weht über die sonnige
Terrasse, und ich schleiche davon. Er geht mir nach, wutentbrannt. Die Bürotür
am hellichten Tage verschlossen, das ist ein böses Vorzeichen. Ein Gefühl der
Leere, Schweigen und Schrecken ergreifen mich wieder. Ich werde bestraft, weil
ich zu hoffen wagte.
Er hält mir eine Standpauke, die an mir
vorüberrauscht, bis ich höre:
»...und dann, wenn du eine Woche
wegfahren würdest, könnten wir uns nicht sehen, wir wären weit voneinander
entfernt. Du wirst mir fehlen, der Gedanke, daß du weit fort bist, gefällt mir
nicht...«
Verfluchtes Ungeheuer. Du hast Angst,
daß ich dir entwische. Du brauchst deine Widerwärtigkeiten jeden Abend.
Straßenmädchen, deine Frau, mich... Wahnsinniger.
»Außer wenn wir...«
Welche Falle wird er mir jetzt stellen?
»Außer wenn wir die verlorene Zeit
nachholen. Ja, so ginge es. In zwei Nächten können wir die Arbeit für eine
ganze Woche erledigen. Heute abend wirst du die Aufstellung der Rechnungen zu
Ende bringen, und danach bleiben wir zusammen... Okay? Nur wir beide... Auch
wir werden feiern, auf unsere Weise... Das ist eine gute Idee... Ich freu’ mich...
du nicht?«
Darauf kann ich nichts antworten.
Nichts, du Dreckskerl! Halte dieses Schweigen meinetwegen für ein
Einverständnis. Was bleibt mir schon anderes übrig? All das sind bloß Worte.
Wenn ich nein sage, bin ich trotzdem dran. Du kannst mich mal.
Er ist wieder auf die Terrasse
gegangen, mit einem schmutzigen Lächeln auf den schmalen, bösartigen Lippen.
Wie ein Superdaddy hat er allen triumphierend verkündet, er wäre einverstanden.
Monsieur war zum Nachgeben bereit. Die Kinder würden mitkommen, unter der Bedingung,
daß Nathalie, Ihr wißt schon, die Idiotin, die jeden Tag die Rechnungen
schreibt, ihre Arbeit erledigt. Ihre
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