Ich will meinen Mord
Orten der Welt sind unabhängig voneinander auf die Idee gekommen, Büroklammern in bunten Farben oben an ihre Buchseiten zu stecken, um Merkwürdigkeiten später leicht wiederzufinden, und unabhängig voneinander sind sie durch Ausprobieren darauf gekommen und versichern sich in einer Bar in Metz, daß auch das Unfug ist. Das Wortkarge an Viszman hat sich in Lebhaftigkeit verwandelt, weil das Leben, auch wenn es im ganzen ein Geheimnis ist, in Einzelheiten doch Wunder bereitstellt, Einzelwunder, die nicht nur mitteilbar sind, sondern mitgeteilt werden müssen, zutage kommen weitere Wunder und müssen auch mitgeteilt werden, manche sind nicht ganz so überraschend wie das Büroklammerwunder, das Diderot-Wunder und die stillgestellte Zeit, im Grunde wäre die Entdeckung einer gemeinsamen Neigung zu Rochenflügeln in Kapernsoße schon fast anzunehmen gewesen bei so viel aktiver Lebensfreude und Gemeinsamkeit, wie sie hier in zwei völlig erwachsenen Menschen an einem Tisch versammelt ist, denen es scheint, als wären sie füreinander gemacht; egal: wir wundern uns doch. Und wie wundern wir uns erst, als wir aus der Bar heraustreten, und es ist tatsächlich dunkel.
Von Barbagelata haben wir, während wir in der Bar saßen, nicht gesprochen, es ist im Augenblick überflüssig, da in der Hauptsache feststeht, daß wir auf der soliden Basis von Büroklammern und alten Schuhen der Lebensfreude verschworen sind gegen die Zeit.
Von Barbagelata werden wir übrigens überhaupt nicht mehr sprechen müssen, weil ich morgen früh im Café eine Zeitungsnotiz entdecke: Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Immobilienhändler nahe Marseille, der italienische Name läßt auf Mafia schließen oder auf Pseudonym. Mit Verhaftung ist zu rechnen.
Morgen früh im Café, bevor mich Viszman zum Zug bringt, lachen wir, wenn wir entdecken, daß wir beide H-Milch nicht leiden können; der Milchkaffee schmeckt durch den Kaffee hindurch impertinent nach H-Milch, die Zigaretten schmecken nach wenig Schlaf, die morgendliche Dusche war höchstens lauwarm, das Frösteln kommt von der spätoktoberlich kalten Stadt, der traurigen Dusche und den Baumaschinen, die heute früh vor dem Fenster die Stadt aufgerissen haben, um sieben Uhr hat zu unserem Ärger die Zeit wieder eingesetzt, nachdem sie zwölf Stunden lang aufgehört hatte, zwölf Stunden sind keine Zeit, finden wir, hundert Jahre sind eine Zeit, gut, aber zwölf Stunden sind wirklich gar nichts, Viszman findet, so ein Termin am Winterfeldtplatz ist auch gar nichts, Viszman drängt auf augenblickliche Existenzgründung in einem Hotel in Metz, ich denke an seinen Anrufbeantworter in Thionville und das Alarmblinken aus Besançon, in unserer zeitlosen letzten Nacht gab es wunderbarerweise weltweit keine Menschen mit Ausnahme meines Verlegers, den ich erwähnt habe, weil ich ihn heute noch treffen soll und also den Zug kriegen muß; ansonsten: zwei freie einsame Menschen, der Rest der Welt abgeräumt, untergegangen, gar nicht erst auf die Welt gekommen, ausgesperrt. Tür zu, den Schlüssel innen steckengelassen. Zwei Paar Schuhe davor, die mal geputzt werden müßten.
Wenn Viszman mir von Griechenland erzählt: kein Zweifel, daß er allein die Welt bereist hat, mutterseelenallein, Portugal, Spanien, Rußland (Rußland?). Schließlich bin auch ich ganz allein in Paris gewesen, am Matterhorn, in Italien, überhaupt eine übereinstimmende Neigung zu Einzelreisen bei Viszman und mir; ein unglaubliches Wunder hat zwei Einzelreisende zusammengebracht, die in ihrem Leben nichts anderes getan haben, als Büroklammern in Buchseiten zu stecken, Eselsohren zu kniffen, allein durch die Welt zu ziehen und an den Katzentischen, die solche einzelnen von böswilligen Kellnern zur Strafe für Einsamkeit zugewiesen bekommen, Rochenflügel auf Rochenflügel zu verspeisen; das heißt, einige Menschen kennt Viszman: beruflich. Meinen Verleger kenne ich schließlich auch: beruflich. Ansonsten hat man sich zwei Radikalindividualisten vorzustellen, die konsequent vierzig Jahre lang auf den Augenblick gewartet haben, in dem in einem Hotelzimmer in Metz der Naturzustand ausbricht, eine subversive Angelegenheit, gefährlich, so gefährlich, daß Viszman sich geistesgegenwärtig unter einem anderen Namen an der Rezeption einschreibt, zum Glück verlangt der Mann an der Theke keine Ausweise, er will zurück zu seinem Fernsehquiz, aus dem ihn das Türschrillen herausgeholt hat, er wundert sich nicht einmal, daß wir kein Gepäck
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