Ich will meinen Mord
Weile von Büroklammern satt werden müssen, Viszman sieht verzagt aus und sagt, sei nicht verzagt, ich sage, sei du nicht verzagt. Wir sind nicht verzagt, weil wir ja diese Büroklammern haben, jede Menge Büroklammern, und als der Krach schließlich aufhört und der Autoverkehr nicht mehr durch unser Zimmer fährt, ist es fast still und gut, nur daß der Wecker jetzt furchtbar laut tickt, und im Nebenzimmer, in dem offenbar schon vor Jahren eine unbedachte Existenzgründung ohne ein ausreichendes Polster an Büroklammern stattgefunden hat, klingt es zur Strafe für Anarchie nach Suff und Krach und Elend. Wir sind still, und schließlich wird sich im Nebenzimmer versöhnt und geschlafen. Morgen früh wird die Frauenstimme mich wecken. Viszman sagt, die Zeit ist so kostbar, ich schlafe bestimmt nicht ein, schläft sofort ein und muß kurz vor zwölf auf die Augen geküßt werden.
Viszman, es ist Zeit.
Nein! So nicht!
Andererseits: Einen Menschen im Schlaf zu ermorden ist feige.
Ich hätte niemals in diesen Zug steigen dürfen.
Als er geht, ist er eilig, ein Kuß auf die Stirn, wir sehen uns morgen. Ich sehe vom Hotelfenster, wie er auf die Straße tritt, die Straße könnte für einen polnischen Ex-Trotzkisten voller Geheimdienste sein, Viszman kontrolliert mit zwei knappen Blicken, ob man ihn überwacht hat: links, rechts, Straße rauf, Straße runter.
Jetzt nicht traurig sein.
Jetzt ganz schnell an was anderes denken.
Ich könnte ihn in Nancy aussteigen lassen.
Mein Verleger morgen am Winterfeldtplatz sähe keinen Grund, warum er den Updike, den ich ihm nicht versprechen kann, nachdem Barbagelata gewählt ist und die Obdachlosen in Pappkartons stecken, mit weißem Whisky feiern sollte, das Gespräch würde betrüblich verlaufen, kein Strahlen in den Augen meinerseits, nach einer Weile hätte ich genug und würde nie erfahren, ob weißer Whisky nicht im Grunde so schmeckt wie der, den ich kenne.
Viszman ist aufgewacht und liest weiter. Einmal zieht er eine kleine grüne Büroklammer aus seiner rechten Jackentasche und steckt sie oben auf eine Seite.
Über Birgit Vanderbeke
Birgit Vanderbeke, geboren 1956 in Dahme/Mark, lebt im Süden Frankreichs. Sie wurde 1990 für die Erzählung »Das Muschelessen« (FTV Bd. 13783) mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. 1999 erhielt sie den Solothurner Literaturpreis für ihr erzählerisches Gesamtwerk, 2002 wurde ihr der Hans Fallada-Preis verliehen. Sie veröffentlichte weiterhin: »Fehlende Teile« (1992, FTV Bd. 13784), »Gut genug« (1994, FTV Bd. 13785), »Friedliche Zeiten« (1996, FTV Bd. 13786) »Alberta empfängt einen Liebhaber« (1997, FTV Bd. 14198), »Ich sehe was, was du nicht siehst« (1999, FTV Bd. 15001) und »abgehängt« (2001, FTV 15622). Informationen zum Werk und kurze Prosatexte bietet der Materialienband »Ich hatte ein bißchen Kraft drüber« (2001, FTV Bd. 14037). Zuletzt erschien »Gebrauchsanweisung für Südfrankreich«.
Über dieses Buch
Während ein Zug durch das von Unwetter überschwemmte Rhonetal saust, denkt sich eine reisende Schriftstellerin Geschichten über ihre Mitreisenden aus. Nur machen sich die ausgedachten Personen bald selbständig und gehen eigene Wege. Wechseln ins Leben und wieder zurück in ihre Geschichte. Ein vergnügtes literarisches Spiel, in dem Fiktion und Realität kräftig durcheinandergewirbelt werden.
»Die Verknüpfungen, der Wechsel der Erzählebenen, die Erfindungen von Geschichten und Figuren – das alles liest sich so locker, daß es zu einem reinen Vergnügen wird.«
Berliner Illustrierte Zeitung
Impressum
© Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin 1995
Alle Rechte liegen liegen bei
S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Covergestaltung: Buchholz/Hinsch/Heninger
Coverillustration: Walter Hellmann
Digitalisierung: pagina GmbH, Tübingen
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ISBN 978-3-10-400279-8
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