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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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    Die Invasion scheint vorzuschreiten. Gestriger Bericht: Vordringen in der Normandie. Aber ich kann noch nicht hoffen. Immer wieder war von »Vergeltung«, von »neuer Waffe« die Rede. Goebbels schrieb, er fürchte mehr das Ausbleiben der Invasion als ihr Eintreten; Hitler einen Tag vor der Landung: Man werde ihr an entscheidendster Stelle die vernichtendste Niederlage beibringen. Es wäre selbst für LTI ein allzustarkes Stück, wenn dies alles nur Bluff wäre. Ist eine List im Spiel, will man den Feind vollzählig in eine Falle locken? Gas etwa? Andrerseits: Die Engländer sind vorsichtig und bestunterrichtet und der unüberwindliche Atlantikwall ist offenbar durchstoßen. Wir rätseln, und ich kann nicht hoffen. Das heißt: Der deutschen Niederlage bin ich gewiß, seit dem 1. 9. 39 gewiß – aber wann? Auch die Vernichtung der »Invasoren« würde nicht zum Sieg Deutschlands führen, nur zu Verlängerung des Krieges. –
21. Juni, Mittwoch mittag
    Seit Pfingsten der erste Alarm, zugleich wohl der längste. Begann nach halb zehn, wir mußten bald in den Keller, waren erst um halb zwölf wieder hier, und eine halbe Stunde später gab es noch einmal kleinen Alarm. Man muß die nahe Umgebung ernsthaft angegriffen haben – Dresden blieb wieder verschont, ich bin jetzt fast überzeugt, daß ein Versprechen an Benesch vorliegt.
    Morgen beginnt wieder der Fabrikdienst. Angst vor dem grauenvollen Zeitmord. Gewiß, die Länge des Tages zu Hause wird mir oft schwer, da ich ja gar keine Ablenkung habe und vor jedem Weg zurückscheue – gestern zwang ich mich förmlich zu einem Spaziergang zum jüdischen Friedhof, wo in dem Gärtnerschuppen mit dem Kleeblatt die ewigen Dasselbigkeiten geplaudert wurden –, ich schlafe auch wiederholt ein, aber bei alledemhat der Tag doch einen geistigen Inhalt, wird er doch gelebt, fehlt ihm das entsetzliche Gefühl des Zeitmordes, das ich mir wirklich nicht mehr leisten kann.
24. Juni, Sonnabend gegen Abend
    Historisches Datum meines Lebens: Gestern, am 23. 6. 44, bin ich endlich und wirklich »dienstentpflichtet« worden. Den Nachtdienst brauchte ich schon nicht mehr zu leisten. Nun hat die Fabrikarbeit, die ich über vierzehn Monate leisten mußte und die mich ein Stück Gesundheit und soviel vergeudete Zeit gekostet hat, wirklich ein Ende. Noch bin ich zu müde, um mich wirklich zu freuen. –
    In diesen letzten zwei Tagen stand an der Aktenkuvert-Maschine, für die ich zählte und packte, Frau Wittich, eine dicke, resolute, zurückhaltende, aber gutmütig anständige Person, seit vielen Jahren im Betrieb, in dem auch ihr Vater arbeitet. Als sie hörte, daß ich ginge, wurde sie ein bißchen zutunlicher. »Der Krieg möchte (sächsische Form!) nun endlich mal zu Ende sein.« Das einzige Kind, ein achtzehnjähriger Sohn, U-Boot-Matrose – die viele Arbeit in der Fabrik, und abends kommt der Mann auch aus der Fabrik und kann das Essen gar nicht erwarten … » Sie werden sich nun erholen können und etwas vom Sommer haben!« Ich sagte ihr, mit dem Stern würden Spaziergänge besser vermieden. Darauf sie ganz harmlos und unwissend: » Dann würd’ ich ihn doch draußen nicht tragen! « Sie war verwundert und ungläubig, als ich ihr sagte, daß das buchstäblich das Leben koste. –
21. Juli, Freitag gegen Abend
    Ich saß bei der Disposition meiner Rosenzweig-Notizen – mühseligste Arbeit, noch immer und längst nicht fertig –, da kam wie tags zuvor um halb zwölf Alarm, erst kleiner, dann großer. Der Kelleraufenthalt war diesmal ein bißchen kürzer und ganz ohne Sensation, d. h. er war ganz ausgefüllt von anderer Sensation, vom Attentat auf Hitler. Vielleicht wird mir das in wenigenJahren so fernliegen, eine so verschwommene Sache sein, wie mir heute die Bürgerbräu-Affäre von 39 fernliegt. Was war es damit, wer war der Täter, was war die Absicht etc. etc.?? Weder Eva noch ich können uns darauf besinnen, weil eben die Sache folgenlos blieb und so vom Nachfolgenden übermalt, verdrängt wurde. Vielleicht geht es mit diesem Anschlag ebenso, vielleicht aber ist er Wendepunkt. Der Miterlebende weiß nichts. Ich halte fest: Auf der Treppe sagte uns Frau Witkowsky: Es sei eben bekannt geworden, daß ein Attentat auf den Führer verübt worden, im Hauptquartier durch namentlich aufgeführte, bereits erschossene deutsche Offiziere. Ich wandte mich mit dieser Nachricht, als einer absoluten Neuigkeit, im Keller an Neumark. Darauf er: Das stehe schon im

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