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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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über mir das bösartig stärker werdende Summen eines rasch näher kommenden und herunterstoßenden Flugzeugs. Ich lief rasch auf die Mauer zu, es lagen schon mehr Menschen dort, warf mich zu Boden, den Kopf gegen die Mauer, das Gesicht in die Arme gelegt. Schon krachte es, und Kiesgeröll rieselte auf mich herab. Ich lag noch eine Weile, ich dachte: »Nur jetzt nicht noch nachträglich krepieren!« Es gab noch einige entferntere Einschläge, dann wurde es still. –
    Ich stand auf, da war Eva inzwischen verschwunden. Fleischners hatten sie eben noch gesehen, ein Unheil hatte sich hier nicht ereignet: So war ich nicht sonderlich besorgt. Immerhin dauerte es wohl zwei Stunden, bis wir uns wieder trafen. Eva hatte beim ersten Bombenabwurf wie ich an der Mauer in Deckung gelegen, nachher einen Keller an der Elbe aufgesucht. Ich suchte sie längs der Mauer, dann mit Waldmann zusammen im Albertinum, ich hinterließ an der Mauer sozusagen meine Adresse einem neu aufgetauchten Graukopf, mit dem ich Waldmann in behaglichem Gespräch gefunden. »Leuschners Schwager.« – »Er muß doch wissen, daß Sie und ich einen Stern getragen haben.« – »Das ist doch jetzt ganz egal! Alle Listen sind vernichtet, die Gestapo hat anderes zu tun, und in vierzehn Tagen ist sowieso alles zu Ende!« Das war Waldmanns in den nächsten Tagen ständig wiederholte Überzeugung, Löwenstamm und Witkowsky urteilten ebenso. Der Schwager Leuschner jedenfalls blieb harmlos, ich plauderte in der Nacht noch wiederholt mit ihm, und am nächsten Morgen reichten wir uns die Hand zum Abschied.
    Irgendwie also hat sich Eva nach einiger Zeit in dem ihr schon von früher und vom Beginn der Schreckensnacht her bekannten Albertinumkeller eingefunden. Das große Gebäude hatte in seinen obern Stockwerken gebrannt; das weiß ich aber nur aus Evas Bericht. Denn oben thronte unversehrt die gußeiserne Queen, und der festen Kellerflucht, wahren Katakomben, zu denen von der Toreinfahrt aus eine breite Treppe führte, merkteman nichts an. Die hohen, zahlreichen elektrisch erleuchteten Räume waren sehr voll. Es war schwer, auf den Bänken einen Sitzplatz zu finden. Auf dem Fußboden lagen auf Bahren oder Decken oder Betten Schwerverwundete, einige Räume waren ganz als Lazarett eingerichtet, nur von Liegenden angefüllt. Soldaten und Sanitäter gingen und kamen, neue Bahren wurden hereingetragen. Dort, wo ich Platz fand, etwa im mittleren Raum, lag am Boden ein furchtbar röchelnder Soldat, ein starker Kerl mit mächtigen Beinen und Füßen. Jeder Vorbeigehende stolperte über seine Stiefel, der Mann in seiner tiefen Bewußtlosigkeit merkte nichts mehr. Dicht neben ihm unter Betten lagen zwei Frauen, die ich lange für tot hielt. Später begann die eine zu stöhnen und bat mich einmal, ihr die Decke fester an den Rücken zu stopfen. In einer Ecke des Raums stand auf niedriger Estrade eine Dynamomaschine, großes Schwungrad mit Handhebel. Als Eva kam, streckte sie sich auf dieser Estrade lang aus und schlief viel. Ich selber wanderte viel herum, plauderte, kauerte mich zwischendurch auf ein Bankeckchen und schlief. Ich war nach der Katastrophennacht und nach dem reichlichen Gepäckmarsch des Vormittags so abgespannt, daß ich gar kein Zeitgefühl mehr hatte. Es war kaum später als sechzehn Uhr, da schien es mir schon, als steckten wir tief in der zweiten Nacht. Die Abspannung wurde durch Hunger verstärkt. Seit der Kaffeemahlzeit am Dienstag abend hatten wir keinen Bissen erhalten. Es hieß immer, die NSV werde Verpflegung heranschaffen. Aber nichts kam. Die Sanitätssoldaten hatten Brot und Wurst zu ihrer eigenen Verpflegung. Davon verschenkten sie einiges. Ich bettelte einen an und brachte Eva ein Brot. Später kam eine Frau, brach mit ihrer fraglos schmutzigen Hand einen Brocken von ihrer Schnitte ab und reichte sie mir. Das Stückchen aß ich. Viel später, bestimmt schon am vorgeschrittenen Abend, kam ein höherer Sanitäter, traf irgendwelche Anordnungen und rief, jeder werde gleich etwas zu essen bekommen. Dann tauchte eine Schüssel mit weißen Brotpaketen auf, in jedem Paket zwei Doppelschnitten. Aber nach den ersten Minuten hieß es: Jedes Paketmüsse für zwei Personen reichen. Ich teilte mit Eva. Was aber den meisten – uns merkwürdigerweise nicht – mehr fehlte als das Essen, war Getränk. Anfangs hatte man irgendwo ein wenig Tee aufgetrieben und einzelne Schlucke verteilt. Bald gab es gar nichts, keinen Tropfen Wasser, auch nichts für die

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