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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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das in normalen Zeiten getan. Jetzt blieb mir nichts anderes übrig, als diese Gefahr zu dem übrigen zu legen. Das Auge hat sich inzwischen fast hergestellt, und nun wird wohl nichts weiter mehr nachkommen. –
    In Klotzsche kamen mir zum erstenmal Gedanken über unsere Verluste. Alle meine Bücher, die Lexika, die eigenen Werke, ein Maschinenexemplar des 18 ième und des Curriculum. Geschieht ein Unglück in Pirna, dann ist meine gesamte Arbeit seit 1933 vernichtet. – Im Schreibtisch lagen zusammengestellt die Stücke des dritten Bandes gesammelter Aufsätze. Wie soll ich das wieder zusammenfinden? Bei Thamm sind alle meine Sonderdrucke vernichtet …
    Das alles focht mich nicht übermäßig an. Das Curriculum würde ich in knapperer und vielleicht besserer Fassung aus dem Kopfe wiederherstellen. (Bei der Buck hat mir einmal ein Satz imponiert: »Darauf zerriß sie alle Modellzeichnungen, um nun frei gestalten zu können.«) Nur um die Sammlungen zur LTI wäre es ewig schade. –
Piskowitz, 19. Februar, Montag nachmittag
    Ich habe einen Stichwort-Überblick, den ich fortführe; ich breite hier einzelnes nach Zeit und Stimmung aus.
    Immer wieder bewegt mich die doppelte Gefahr. Die Gefahr der Bomben und der Russen teile ich mit allen andern; die der Stella ist meine eigene und die weitaus größere. Das fing in der Terrornacht an; erst schlug ich die Decke darüber. Am Morgen sagte mir Eisenmann: »Sie müssen ihn abnehmen, ich habe es schon getan.« Ich machte den Mantel frei. Waldmann beruhigte mich: In diesem Chaos und bei Vernichtung aller Amtsstellen und Verzeichnisse … Übrigens hätte ich gar keine Wahl; mit dem Stern würde ich sofort ausgesondert und getötet. Dem ersten Schritt folgten zwangsläufig die anderen. In Klotzsche die Aufnahmeliste mit Victor Klemperer senz’altro. Erst von mir nur diktiert. Später bei Ausgabe von Essenmarken von mir unterschrieben. Danach brauchte ich Versorgungsschein. Jetzt auf zwei Ämtern in Stadt Klotzsche genaue Angaben und Unterschriften. Eva nahm auch eine Raucherkarte für mich. Ich unterzeichnete zweimal. Ich saß in Restaurants, ich fuhr Eisenbahn und Trambahn – auf alles das steht im 3. Reich für mich der Tod. Ich sagte mir immer, wer wolle mich kennen, zumal wir uns aus dem Dresdener Bezirk entfernten. Kamenz ist eigene Amtshauptmannschaft.
20. Februar, Dienstag vormittag
    All die Gedanken über Volksstimmung und Lage führten in unserer Gruppe natürlich immer wieder zur Frage der persönlichen Sicherheit. Ich war der einzige, der ängstlich war. Wir erfuhren dann am Sonnabend: 1) laufe am Sonntag ein neues Kapitulations-Ultimatum ab, 2) werde der Fliegerhorst am Sonntag von allen Zivilisten geräumt. Darauf nahm Eva mit großer Unruhe und wilder Energie den Piskowitzplan in die Hand. Um dreiviertel sieben waren wir mit allen Papieren zurück im Fliegerhorst, um 19.10 Uhr sollte unser Zug vom Bahnhof Klotzsche abgehen, um 19.20 Uhr waren wir mit unserm Gepäck und trokkenenBrotschnitten dort. »Zug wird ausgerufen – unbestimmt wann.« Gedränge von Militär und Zivilisten. Wir aßen unser Brot. Um 20.30 Uhr etwa kam der Zug. Fahrt im Dunkeln mit endlosen Aufenthalten und unglaublichem Funkenflug der Maschine. Genau um Mitternacht in Kamenz.
    Ich fragte in dem NSV-Zimmer an, ob es eine Fahrgelegenheit nach Piskowitz gebe. Am Sonntag kaum, hieß es; ich möge aber in der Panzergrenadier-Kaserne anfragen, auch könnte ich jedes Militärauto auf der Landstraße anhalten.
    Nach sieben Uhr begannen wir den Gepäckmarsch. Vieles vom Weg war mir von unsern Fahrten her in Erinnerung. In der Kaserne war man ungemein höflich zu mir, hatte aber keinen Transport nach Piskowitz, auch mit dem Anhalten der Wagen glückte es nicht.
    Wir mußten langsam, langsam die ganzen 8 km wandern. Ebene Äcker wechseln mit Waldstücken, die wie mit dem Lineal und Winkelmaß gezogen sind und aus dichtgestellten, gleichförmigen und unromantischen hageren Kiefern bestehen. In Großbaselitz war der Gasthof offen, aber von einer Schippertruppe belegt. Wir gingen in die Küche, erzählten unser Unglück, wurden sofort gut aufgenommen, bekamen am Küchentisch Kaffee und Buttersemmel, wofür Marken und Geld verweigert wurden, und mußten berichten. Ein alter Mann, sehr rüstig, mit gutgeschnittenem und rasiertem Gesicht, Wirt oder Vater des Wirtes, setzte sich zum eigenen Frühstück an den Tisch und sprach laut und unverblümt über das unsägliche Elend, an dem er schuld sei, er

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