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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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verschwunden.
    Wir gingen langsam, denn ich trug nun beide Taschen, und die Glieder schmerzten, das Ufer entlang bis über die Vogelwiese hinaus. Oben war Haus bei Haus ausgebrannte Ruine. Hier unten am Fluß, wo sich viele Menschen bewegten oder hingelagert hatten, staken im durchwühlten Boden massenhaft die leeren, eckigen Hülsen der Stabbrandbomben. Aus vielen Häusern der Straße oben schlugen immer noch Flammen. Bisweilen lagen, klein und im wesentlichen ein Kleiderbündel, Tote auf den Weg gestreut. Einem war der Schädel weggerissen, der Kopf war oben eine dunkelrote Schale. Einmal lag ein Arm da mit einer bleichen, nicht unschönen Hand, wie man so ein Stück in Friseur-Schaufenstern aus Wachs geformt sieht. Metallgerippe vernichteter Wagen, ausgebrannte Schuppen. Die Menschen weiter draußen hatten z. T. wohl einiges retten können, sie führten Bettzeug und ähnliches auf Karren mit sich oder saßen auf Kisten und Ballen. Zwischen diesen Inseln hindurch, an den Leichen und Wagentrümmern vorbei, strömte immerfort Verkehr, Elbe auf- und abwärts, ein stiller, erregter Korso. Wir bogen endlich – ich überließ mich Evas Führung und weiß nicht, wo – rechts zur Stadt hin. Jedes Haus eine Brandruine, aber häufig Menschen davor mit gerettetem Hausrat. Immer wieder noch unversiegte Brände. Nirgends die Spur einer Löschtätigkeit. Eva sagte: »Das Lämmchen«, »der Fürstenplatz«. Erst als wir an die Krankenhäuser kamen, orientierte ich mich. Das Bürgerspital schien nur noch Kulisse, das Krankenhaus bloß teilweise getroffen. Wir traten in den jüdischen Friedhof. Von dem Haus, das die Leichenhalle und Jacobis kleine Wohnung enthalten hatte, stand dachlos das äußere Gemäuer, dazwischen sah man ein tiefes Loch im nackten Erdboden, sonst gar nichts, alles war vollkommen vertilgt. Merkwürdig klein wirkte dieser Raum; rätselhaft, wie er die Halle, die Wohnung und noch einige Nebenräume enthalten hatte. Ich ging die Allee hinunter zu dem Gärtnerschuppen, in dem ich Steinitz, Schein und Magnus oft beim Skat getroffen hatte. Viele Grabsteine und -platten waren umgeworfen oder beiseite geschoben, viele Bäume geknickt, manche Gräber wie angewühlt. (Wir fandennachher noch in einer ziemlich entfernten Straße ein Stück Grabstein, Sara … war darauf zu entziffern.) Der Gärtnerschuppen stand kaum beschädigt – aber nirgends war ein Mensch zu sehen. Einen Keller hat es auf dem Friedhof nicht gegeben – was mag aus Jacobi und seiner Familie geworden sein? –
    Wir wollten nun nach der Borsbergstraße zu Katz, teils um Anschluß zu finden, teils meines Auges halber, aber überall in den Straßen war Schutt und rauchiger Staub, überall brannten noch einzelne Häuser. Als eines davon wenige Schritte vor uns in sich zusammenstürzte, natürlich mit ungemeiner Staubentwicklung, gaben wir den Versuch auf. Langsam, mit vielen Pausen, sehr erschöpft, gingen wir den gleichen Weg zurück, den wir gekommen. Dort flutete der gleiche Korso wie zuvor. Dann suchten wir noch am Platz vor der Zeughausstraße, ob sich dort jemand von den unsrigen finde. Die Zeughausstraße 3 war ein einziger Geröllhaufen, von der Zeughausstraße 1 stand, der Stadt zugekehrt, ein Vorderpfeiler mit einem Stückchen Mauer galgenartig daran hängend. Das ragte gespenstisch und gefährlich und verstärkte nur das Bild der absoluten Zerstörung. Wieder kein Mensch. Wir lagerten uns nun an der Außenmauer der Brühlterrasse, Schmalseite. Wir fanden dort Waldmanns und Witkowskys, dazu ein älteres Ehepaar Fleischner. Waldmann rühmte sich, einige vierzig Leute, Juden und Arier, aus der Zeughausstraße 1 gerettet zu haben, dort sei niemand umgekommen. Er wußte auch von irgendwoher, daß die Ménages Steinitz und Magnus heil seien – von allen andern wußte er nichts. Sehr merkwürdig berührte es mich, daß sich der ganz verlorene Witkowsky zäh und agil unter den Lebenden befand.
    Auf dem Platz vor uns hielt ein Sanitätsautomobil; Menschen umlagerten es, Bahren mit Verwundeten lagen in seiner Nähe am Boden. Auf einem Bänkchen beim Eingang des Autos machte ein Sanitäter Augeneintropfungen; mehr oder minder mitgenommene Augen waren überaus häufig. Ich kam rasch an die Reihe. »Nu, Vater, ich tu Ihnen nicht weh!« Mit der Kante eines Papierstückchens holte er einigen Unrat aus dem verletzten Auge,machte dann eine ätzende Eintropfung in beide Augen. Ich ging, ein wenig erleichtert, langsam zurück; nach wenigen Schritten hörte ich

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