Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
Vom Netzwerk:
allein, und das er, der Wirt, längst habe kommen sehen. Nun sei das Ende da. Wir nahmen diese Bewirtung als gutes Vorzeichen. –
    Nachmittag
    Wir kamen am Sonntag etwa am späten Mittag an. Ein kleines Mädchen, die achtjährige Marka (Maria) vor der Tür: Die Mutter sei krank. In der uns vertrauten Stube lag Agnes auf dem Sofa aufgebettet, sehr wenig verändert mit dem alten hochroten Gesicht. Entsetzen und Freude und wieder Entsetzen – sie habe unsseit Jahren, seit Michel das Haus in Dölzschen von uns verlassen und »mit großer Fahne« vorgefunden, für verschollen gehalten.
21. Februar, Mittwoch vormittag
    Es ist nicht so, als behandelte uns Agnes als Gäste und briete Extrawürste, sondern wir bekommen genau das, was sie und ihre Kinder essen. Nun ging es uns beiden wohl in Dresden besonders schlecht, wir empfanden ja schon die Kost in Klotzsche als eine Herausfütterung. Hier aber nährt man sich wahrhaftig von Rahm und Butter und erhält an einem Tag mehr Kalorien, als es in Dresden wöchentlich gab. Wir bekommen morgens und nachmittags in beliebiger Menge das schöne Landbrot mit Butter und Quark oder Honig. Wir bekommen zu Mittag eine kräftige Suppe, fast immer Fleisch, abends auch. Man hat Karnickel und schlachtet sie, man hat Milch in Menge (von zwei Kühen), liefert nicht alles ab, was man abliefern soll, und buttert ein bißchen schwarz. Gestern nachmittag bekamen wir Eierkuchen zum Kaffee. Eva aß zweieinhalb und ein Brot mit Fleisch hinterher, ich aß dreieinhalb. (Zum Vergleich: Bei »Maxe« gab es in besseren Zeiten einen Eierkuchen gegen 100 Gramm Weißbrot- und 10 Gramm Fettmarken; seit Monaten fehlten die Eier, und so gab es für die genannten Marken einen Kartoffelpuffer. Der und ein halber fettloser »Stamm« waren Evas Vorzugsmittagsbrot.)
    Bisweilen kommt ein Soldat ins Zimmer: »Frau, kann ich a weng Mehl haben?« Dann gibt es eine kleine Plauderei. Die Leute sind resigniert – das sei kein Krieg mehr, nur noch ein Schlachten, die Russen seien in ihrer Übermacht nicht aufzuhalten usw. usw. –, aber sie sind eben nur resigniert und müde – einer von ihnen ist seit siebeneinhalb Jahren Soldat – und keineswegs defätistisch oder gar rebellisch. Sie lassen sich fraglos weiterschlachten, sie leisten fraglos weiteren Widerstand. –
28. Februar, Mittwoch vormittag
    Eva war früh beim Bürgermeister. Harmlos und überhäuft wie bisher, und in Dresden scheint noch ziemliches Chaos zuherrschen. Aber er las Eva aus der »Kamenzer Zeitung« neue Bestimmungen vor, und eben bringt Agnes das Blatt mit Anordnungen Mutschmanns: Die Schnur zieht sich immer enger um meinen Hals, es ist kein Ausweg mehr zu finden. Und der Krieg geht geradezu erfolgreich für Deutschland weiter: Überall behauptet es sich, ja gewinnt Boden zurück.
    Nach Tisch, vierzehn Uhr
    Evas Unerschütterlichkeit richtet mich immer wieder auf. Ihr an Scherner appellierender Plan scheint mir bis zur Unmöglichkeit phantastisch; aber der Weg dorthin würde sowieso über Pirna führen, und an Pirna knüpfe ich so etwas wie eine allerletzte Hoffnung. –
    Falkenstein im Vogtland
In Scherners Apotheke
    7. März, Mittwoch vormittag
Überblick Sonntag, 4. 3.:  
Piskowitz ab 14 Uhr. Pirna an 23 Uhr. Bei Annemarie und Dreßel: Nacht.
Montag, 5. 3.:  
10–12 Uhr im Bombenkeller der Klinik. 14 Uhr Fahrtbeginn nach Falkenstein. Nachts im Zuge angegriffen.
Dienstag, 6. 3.:  
Morgens Frühstück Zwotental. 11–13 Uhr Güterzug Falkenstein. In Scherners Apotheke.
    Seit wir hier untergekommen, dürften meine Chancen des Überlebens einigermaßen auf 50 Prozent gestiegen sein. Meinen Manuskripten in Pirna aber, die keinerlei Kopie mehr haben und alle Arbeit und alle Tagebücher umfassen, gebe ich höchstens 10 Prozent Chance.
8. März, Donnerstag vormittag
    Immer wieder gehe ich meine Chancen durch: Meine Flüchtlingsspur ist verwischt, es herrscht ein viel zu großes und ständig wachsendes Chaos, als daß man mir nachforschen dürfte. Wiederum: Jede Bewegung kann mir in jeder Stunde den Tod bringen. Und wie lange noch? Wir erfahren wenig, Scherners sind absolut uninteressiert, Zeitung aus Leipzig soll unregelmäßig eintreffen, mit dem Radio auf dem Rathausplatz haben wir kein Glück. Immerhin: Die Alliierten sind bestimmt in den Vorstädten von Köln. Forse che sì, forse che no …
9. März, Freitag morgens nach sieben Uhr
    In der Laborküche rasiert und fertig gemacht. Eva klatscht sich im Zwischenraum Laden-Privatkontor. Sie packt

Weitere Kostenlose Bücher