Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
für mehr Geld, als ein schönes Mittagbrot beim Flamensbeck kostete – sonst nichts. Wir gingen unerfrischt zum Rathaus zurück, und hier hatte ich nun die entscheidende und deprimierendste Enttäuschung. Es standen dort zahlreiche Posten der MP (Military Police). Vor ihnen waren Seile gespannt, und diesseits der Seile stand ein großer Haufen wartender Leute, zu einem großen Teil Ausländer. Die Sonne brannte glühend. Ich versuchte ein paarmal, an einen Posten heranzukommen, ihm radebrechend klarzumachen, daß ich ins Rathaus müßte , daß ich von den Amerikanern selbst geschickt sei usw. Immer vergeblich. Ich wurde von einem baumlangen Kerl mit Gummiknüttel, ich wurde auch von weniger kinohaften Soldaten mit umgehängtem Gewehr am Arm gepackt und zurückgeschoben.
22. Mai, Dienstag, sieben Uhr, Speisesaal
Eine Gruppe Ausländer wurde aufgerufen, durfte in ein anderes Abtrennungsnetz hinuntersteigen – der ganze Platz erinnerte mich an einen Viehmarkt –, wurde in das Rathaus gelassen. Der deutsche Haufen wartete weiter. Jetzt winkte der Kinoboy den einzelnen Personen, eine nach der andern schlüpfte durch das Seil auf den Tabu-Innenplatz und wechselte einige Worte mit der Dolmetscherin. Die Abfertigung war jedesmal eine blitzschnelle,offenbar negative. Die Reihe kam an mich. Ich zeigte der jungen Person meine Papiere, trug ihr meine Sache so knapp und eindringlich als möglich vor. »Sie müssen zur Kaulbachstraße 65, da bekommen Sie Wohnung.« – »Ich will aber gar keine Wohnung, Sie sehen doch, mein Fall liegt anders, ich muß weiter, auf Anordnung der Militärregierung selber! …« »Sie müssen zur Kaulbachstraße 65, es gibt auch noch ein Wohnungsamt in der Reisinger Straße …« – »Ich will aber gar keine Wohnung …« Sie begriff nicht, sie war erstaunt, deroutiert, der Kinoboy wurde ungeduldig. He is university’s professor, he says … Von oben herab: dreimal, viermal, fünfmal ohne Grobheit, aber mit Kino-Impassibilität: No pass (pess!) Kaulbachstreet sixty-five, Kaulbachstreet sixty-five. Dagegen war kein Ankommen, noch ein paar Sekunden länger, und er hätte mich wieder am Arm gepackt und zurückgeschoben. Ès chambres des dames werden wir darüber lachen, aber am Freitag mittag in der Sonnenglut war es furchtbar.
Eva wartete in einer schattigen Ecke; nun schleppten wir uns also weiter zur Kaulbachstraße 65, weit draußen am Englischen Garten (parallel zur Ludwigstraße). Ein wenig beschädigtes, stattliches Gebäude. Das Innere des Hauses war mir nicht recht erklärlich. Später hörte ich, hier sei eine Dienststelle der Gestapo gewesen. An einem Tischchen im Gang installierte sich ein junges Mädchen mit einer Liste; in der Reihenfolge der Eintragungen sollte man nachher vorgelassen werden. Was aber nicht geschah. Von zwei bis vier saßen wir dort und sahen dem Betrieb zu. Schließlich wurde es uns zu dumm, wir gingen einfach in den Saal herein. Da wurde an verschiedenen Tischen, in verschiedenen Ecken teils verhandelt, teils sich begrüßt und geplaudert. Ich geriet an den stellvertretenden Herrn, er wurde ausnehmend höflich, als er meine Geschichte hörte, brachte mich sofort mit Dr. Neuburger in Verbindung, wir erhielten Stühle an seinen Schreibtisch gesetzt, und nun gab es eine lange und teilnahmsvolle (nur eben von all jenen Abschweifungen des Mannes unterbrochene) Beratung. Ihr Resultat aber war trostlos. An Weiterbeförderungsei nicht zu denken, ehe nicht der Eisenbahnverkehr in Gang sei. Und nun gar nach Dresden in russisches Gebiet! In das Rathaus komme niemand herein.
Wir schleppten uns, schleppen ist wahrhaftig keine Übertreibung, den unendlichen Weg über das Isar-Tor zum Ostfriedhof hinaus, an dem das Martinsspital liegt. Wir haben in all dieser Zeit keinen strapaziöseren Marsch-, Hunger-, Hitze-, Enttäuschungstag erlebt als diesen Freitag, den 20. Mai. Wir waren wirklich aus dem Paradies, dem irdischen: Unterbernbach, dem himmlischen unserer Hoffnungen und unseres Herrengefühls, in ein neues Inferno gestoßen worden. Denn München in seinem jetzigen Zustand, und dies ist wieder wirklich keine Übertreibung, München ist eine mehr als danteske Hölle … Als wir hier nach 19 Uhr ankamen, war Eva mit ihren Kräften zu Ende. Immer wieder wurde ihr so schlecht, daß sie sich lang hinlegen mußte, auf dem Sofa in der »Pforte«, auf den bloßen Fußboden im Speiseraum. Die barmherzigen Schwestern – welchen Ordens? – mit riesigen weißen Hauben und
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