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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Dorfepisode, Anfang der Heimkehr: morgen früh nach München.
    München. Martinsspital
(Catholic Home for old men and women)
21. Mai, Pfingstmontag
    ὕβρις! Das verfolgt mich seit Freitag vormittag, wo wir aus glücklicher Zuversicht in neues Elend, einen Moment geradezu in Verzweiflung, stürzten. Ich hatte geglaubt, nun wieder einmal ein annähernd großes Tier zu sein, und sank nun in eine Hilflosigkeit zurück, die kaum geringer war als die der Hitlerzeit. Es gab Minuten, in denen ich zwischen Gestapo und der Military Police, die den Zugang zum Rathaus mit Brachialgewalt sperrte, keinen sonderlichen Unterschied mehr machte. Inzwischen habe ich das Tragikomische und Provisorische des Rückfalls einsehen gelernt, betrachte die Dinge geduldiger und unter dem Gesichtspunkt eines neuen Curriculum-Kapitels, in alledem von Evas Stoizismus unterstützt.
    Am Freitag, 18. 5., um drei Uhr aufgewacht, um vier Uhr aufgestanden, um fünf Uhr vergeblich auf den Wagen gewartet, um 5.20 Uhr zu Flamensbeck, der fluchend nach dem Rechten sah. Gegen dreiviertel sechs stand dann der Wagen vor unserm Amtshaus. Ein höchst ungefederter Bauernwagen, man fuhr wie auf der Lafette, aber zwei hübsche Rösser davor, als Mitpassagiere zwei uns schon bekannte Frauen, die in Aichach einkaufen wollten, schönste Morgenfrische, glückselige Rüttelfahrt, Abschiedsblicke über die vertraute Landschaft.
    Von der Nymphenburger Gegend her fuhren wir gegen halb elf in München ein, nun gab es aber verschiedene Haltepunkte, an denen Mehl abzuliefern war. Jetzt bekam ich einen Begriffvon der Stärke der amerikanischen Besatzung. Geradezu ununterbrochen rollten in allen Richtungen Fahrzeuge aller Art. Riesige Transportwagen, die wie auf Räder gesetzte Oderkähne aussehen, andere Riesen in üblicher Form, teils mit Waren, teils mit einer Menge Soldaten besetzt, andere Riesen mit Gasolintonnen, hiervon lange Züge, immer neue Züge – und dagegen wollten wir ankämpfen ohne Öl! –, Traktoren, die schwere Geschütze schleppen. Dazwischen wusseln immer und immer wieder kleine, unschöne, aber flinke offene Wagen, oft nur Sitze auf dem Chassis, aber sehr oft mit ragenden Metall-Angelruten, die Radio-Antennen sind. In diesen grauen, häßlichen Würmern sitzen vier bis sechs, manchmal auch nur zwei Soldaten. »Sitzen« stimmt nicht, sie fleetzen sich lässig vergnügt, irgendwo hängt immer ein langes Bein laatschig heraus, und ebenso laatschig liegt die linke Hand zum Anzeigen der Geradeausrichtung auf der Schutzscheibe (einen Winker gibt es nicht, beim Abbiegen strecken sie den Arm nach rechts oder links). Die großen und die kleinen Wagen haben zumeist Eigennamen; auf kleinen las ich Frauennamen wie Mary Ann, auch Baby-Boy, auf einem Laster: Chicago Gangster. Unter einem Bahnübergang stand (wohl von einem Rohrbruch her) tiefes Wasser. Unser Wagen mußte dort warten, weil sich Militärkolonnen nach zwei Seiten, die Räder tief im Wasser, durchwühlten.
    Wir fuhren dann weiter in die Stadt und zu einer Bäckerei, Ecke Erzgießerei- und Dachauer Straße. Hier, war verabredet worden, sollte unser Gepäck bleiben, »nur acht Minuten vom Bahnhof entfernt«, auch sollte eine Trambahn dorthin gehen. Und hier begann nun der Albtraum dieses Tages und die abscheuliche Enttäuschung. Es gab keine Trambahn in ganz München. Und wir waren nicht acht, sondern wohl reichliche zwanzig Minuten vom Bahnhof entfernt. Staub, zertrümmerte Häuser und Autos der Amerikaner, die durch die schuttverengten Straßen Wolken aufwirbelnd jagen: Das ist seitdem mein Hölleneindruck von München; ich glaube endlos lange in dieser Hölle zu sein, und dabei ist es heute erst der vierte Tag.
    Am Bahnhof gab es die zweite Enttäuschung: Die Restaurants, die im April noch in Betrieb gewesen, waren jetzt alle geschlossen. Nirgends eine Eß-, nirgends eine Trinkmöglichkeit. Immer wieder: »wegen Plünderung geschlossen«. (An einem Lädchen: »ausgeblindert«.) Wir haben von den Plünderungen viel erzählen hören, in Unterbernbach, in Aichach und hier. Die ausländischen Zivilarbeiter und Kriegsgefangenen haben offenbar böse gehaust, die Amerikaner erst spät und milde eingegriffen, sie fanden es wohl natürlich, daß die lange schlecht Gehaltenen sich nun entschädigten … Wir erfragten die Kommandantur: am Rathaus. Dicht dahinter lag die »Imbißhalle«, in der wir im April etwas bekommen hatten. Dort gab es jetzt eine Tasse Brühe und eine Tasse undefinierbares »Fruchtgelee«

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