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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Schulterkragen – nahmen uns sehr freundlich auf, wir bekamen ein Glas Wein, Eva bekam etwas Lavendelparfüm ins Waschwasser, es gab noch ein leidliches Abendbrot für uns. Es wurde uns aber auch gleich gesagt, daß das Heim überfüllt sei und wir nur provisorisch aufgenommen seien. Auf einem Gang lagen in ihren Betten aufgereiht ein halbes Dutzend alte Frauen, Kranke, dann ein Wandschirm, und dann, isoliert in der Nähe eines offenen Fensters, standen, ebenfalls in Längslinie, zwei weitere Betten; die waren für uns bestimmt. Da wohnen wir nun, Gott weiß, auf wie lange.
    Der Rahmen der nächsten drei Tage ist nun durch die Hausordnung hier und durch unsere langen Wege bestimmt.
    Ist Münchens Höllenzustand seit dem April wirklich höllischer geworden, oder bin nur ich empfindlicher geworden? Wahrscheinlich sind durch die Angriffe des letzten Monats weitere Zerstörungen hinzugekommen, und was inzwischen an Aufräumungsarbeiten geschafft worden – der Bagger am Bahnhof arbeitet noch immer, ohne daß man ein Abnehmen desSchutthaufens bemerkt –, läßt die Vernichtung nur noch stärker hervortreten. Auf all unsern kilometer-kilometerlangen Gängen durch Innen- und Außenbezirke, vom Südosten nach Südwesten und Nordwesten: überall dasselbe Bild in immer neuen Variationen, mit immer neuen Kinoeffekten: völlige Geröllhaufen, Häuser, die unversehrt scheinen und nur noch Kulissen sind, Häuser mit abgerissener Seitenmauer und dachlos, aber die einzelnen Stockwerke, die einzelnen Zimmer mit ihren verschiedenfarbigen Tapeten sind noch da, irgendwo ist ein Waschbecken erhalten, schwebt ein Tisch, steht ein Ofen, Häuser, die innen ausgebrannt sind …
    Im übrigen machen die Amerikaner weder einen bösartigen noch einen hochmütigen Eindruck. Sie sind überhaupt keine Soldaten im preußischen Sinn. Sie tragen keine Uniformen, sondern Monteuranzüge, Overalls oder Overall-ähnliche Kombinationen aus hochreichender Hose und Bluse in graugrüner Farbe, sie tragen kein Seitengewehr, nur eine kurze Flinte oder einen langen griffbereiten Revolver, der Stahlhelm sitzt ihnen bequem wie ein Zivilhut auf dem Kopf, nach vorn oder hinten gerückt, wie es ihnen paßt. Unten an der Isar stand einer im Stahlhelm mit aufgespanntem Regenschirm, eine Kamera in der Hand – der Schirm schien für die Kamera dazusein. Marschieren habe ich noch nicht die kleinste Gruppe sehen: alle fahren – wie, das beschrieb ich schon. Auch der Verkehrsschutzmann hat nicht die straffe Haltung und Bewegung des Deutschen. Er raucht im Dienst, er bewegt den ganzen Körper, wenn er mit schwungvoller Armbewegung die Wagen dirigiert, er erinnert mich an Filmaufnahmen von Boxkämpfern, vielmehr von Schiedsrichtern, die um die Kämpfenden kreisen, sie trennen, auszählen …
    Ein kleiner Wagen trug die Aufschrift: »Alles kaputt«. Das war wohl die gleiche Gesinnung wie in der Kreideinschrift auf einer Hausmauer: »Tod den (sic) Hitler«, wobei die Hitler für die Hitlerleute stehen mag. An der Feldherrnhalle steht mit Riesenlettern sorgfältig gemalt: »Buchenwald, Velden, Dachau – ich schäme mich, ein Deutscher zu sein.« Folgt der Name des Autors, den ich nicht entziffern konnte.
25. Mai, Freitag früh, vor sieben Uhr
    Dies ist der angenehme Unterschied gegenüber unserer Situation vom 3. April (Aufbruch von Falkenstein): Der Kopf steht nicht mehr auf dem Spiel. Und dies der unangenehme: Damals hatten wir keine Wahl, wir mußten fort, während wir diesmal wählen müssen. Den Kopf riskieren wir nicht, aber die allergrößten Peinlichkeiten, wenn wir die falsche Wahl treffen: Werden wir beim Wandern »geschnappt«, kann man uns rücktransportieren, vielleicht auf Wochen in ein Camp sperren. Dann sind wir noch schlechter daran als hier. Erneuert man uns die Marken nicht, dann müssen wir Hungers halber kapitulieren. Wiederum: Bleiben wir, so bekommen wir, wie sich gestern ergab, auch hier Markenschwierigkeiten. Wir sollen und können nicht »nachweisen«, daß wir regulär abgemeldet von Aichach dauernd nach München gewiesen sind; auf dem amerikanischen Paß steht nur: »Für drei Tage zum Besuch eines Doktors.« Es kann uns also blühen, ohne Marken allein auf die unmögliche Verpflegung irgendeiner Blumenschule angewiesen zu sein. Das wäre genauso schlimm wie irgendein Camp und vielleicht schlimmer …
26. Mai, Samstag früh, halb sieben Uhr, Speiseraum
    Wir sind polizeilich abgemeldet: Wegzug von Schlafstelle im Altersheim Giesing nach

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