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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Falkenstein im Vogtland, Hauptstraße 5b. Wir müssen hier fort, ich habe es der Oberin gesagt, daß wir heute fortgehen, ich habe mich als der Wohltäter des Spitals, als der Einflußreiche drapiert, dafür hat sie uns heimliche Eßzuschüsse bringen lassen (auch gestern abend noch Brot und Butter nach der Suppe – heimlich auf den Gang hinaus), dafür hat sie meine Pirnaer Schuhe mustergültig und durchgreifend reparieren lassen, dafür bewahrt sie uns einen Karton mit Sachen auf Abruf – disjecta membra: ein Teil hier, ein Teil beim braven Bäcker.
    Unser Fluchtversuch hat fraglos weniger Aussicht auf Gelingen als der damalige. Nur steht auf Scheitern nicht wie damals der Tod. Dafür aber schwere Lächerlichkeit und Demütigung.Kommen wir nicht durch, so muß ich mich an die Kaulbachstraße wenden, und das wird sehr bitter. Aber wir haben hin und her erwogen, und das Resultat war immer das gleiche: Strapazen und Enttäuschungen bringt uns die Flucht bestimmt, aber der Aufenthalt in München ebenso bestimmt. Wir kamen beide zu dem gleichen Ergebnis: Müssen wir aus Nahrungsmangel umkehren oder schicken uns die Amerikaner zurück, dann sind wir wenigstens eine Weile außerhalb Münchens gewesen.
    Im übrigen ist das Unternehmen natürlich ein fast irrsinniges: ohne ordentliche Wanderausrüstung, ohne Gewißheit der Lebensmittelmarken, des Quartiers drei-, vierhundert Kilometer zurücklegen zu wollen …
Rückreise München–Dresden
26. Mai–10. Juni
    Oft sah man Kampfreste, und das gilt mehr oder minder für die ganze Strecke München–Dresden: verbogene, ausgebrannte, irgendwie gescheiterte Automobile, Panzer, MGs, Lagerfeuerasche, verstreute Munition, zersplitterte Bäume, halb oder ganz zerstörte Gehöfte, tiefe Furchen oder Wegbruch eines Teils der Straßendecke. Überall, und auch das hat einigermaßen Allgemeingeltung, ist großes Leben auf der Landstraße. Die Amerikaner fahren und fahren, in welcher Fülle und verschwenderischen Üppigkeit, das wird mir erst am Gegensatz der Russenzone ganz deutlich werden; zu ihren Militär- und Materialtransporten kommen die Camions, in denen ausländische Arbeiter und deutsche Soldaten fortgeschafft werden. Die deutschen Soldaten werden wohl erst in ein Lager oder eine Sammelstelle gebracht, ihr Paß muß registriert sein, ehe sie wirklich heimdürfen (und bleibt gefangen). Dazu immer-immerfort die Menge der Wanderer. Die meisten Heimkehrer mit schon erhaltenem amerikanischen Ausweis. Soldaten in halbem und viertel Zivil, mit Tornistern und Rucksäcken, mit Paketen, mit Handwagen,in denen gleich eine Gruppe gemeinsam ihr Zeug rollt, oft bei ihnen Wehrmachtshelferinnen. Außer den Soldaten, nicht immer sofort von ihnen unterscheidbar, die Entlassenen der KZ-Lager und Zuchthäuser. Manchmal noch ganz in den weißblauen Leinenanzügen, manchmal mit Sträflingshosen oder Jacken, oft schon ganz in einem wüsten und zusammengestückelten Zivil. (Auf einem Flüchtlingsauto sah ich einen Dachauer noch ganz in Weißblau, aber mit einem Zylinder auf dem Kopf.)
    Das Grenzschild »Unmittelbare Stadt Freising« erreichten wir zu guter Zeit.
    Irgendwo hatte Eva eine genaue Karte gesehen, aus der hervorging, daß wir uns beim Dorfe Thalbach, dicht bei Moosburg, zwischen Landshut und nördlichem Abschwenken zu entscheiden hatten. Wir nahmen uns vor, dort den Lehrer zu besuchen und um Rat und Karteneinblick zu bitten. Das Wandern ging in Marschieren, in schweigende Energietätigkeit über, man marschierte allmählich mehr mit zusammengebissenen Zähnen als mit den Füßen.
    Endlich, um dreiviertel neun, sind wir in Gammelsdorf , fragen uns zum Pfarrhaus durch und stehen mit vergeblichem Klingeln vor verschlossenem Tor. Verzweifelt zum nahen Wirtshaus, eine gutmütige Frau, aber sie hat keinen Platz. Sie gibt uns Bier zu trinken, sie verspricht uns für den Notfall ein Lager in der Scheune, aber erst soll ich einmal drüben beim Wagner Schmid anfragen. Ich gehe hinüber, glaube in einem zweiten Gasthaus des Ortes zu sein, bin statt dessen (die Leute lachen über meinen Irrtum) bei einem Bauern, der gleichzeitig Wagner von Beruf ist. Auf meinen kurzen Bericht hin, daß ich zum Pfarrer gewollt, daß ich als Professor nach Hause müsse …, wohl auch auf mein sehr erschöpftes Aussehen hin wunderbar aufgenommen.
    Das also war der zweite Wandertag, Sonntag, 27. Mai, Strecke Freising–Gammelsdorf.
    Für Montag hatten wir uns nach diesen Strapazen einen halben Rasttag angesetzt, er

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