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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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»Christbaum« (das Leuchtkugelgebilde sieht wirklich so aus.) –
    Eva sagt: Wir haben Pech; nach dem letzten Bericht muß Falkenstein schon in amerikanischen Händen sein. Und wir sind in Oberbayern. –
23. April, Montag vormittag
    Abends gestern bei Flamensbeck (wo wir aßen), beim Wirt gegenüber und auf dem Platz dazwischen Wallensteins Lager und Kinderkreuzzug. Von Ansbach her war ein Trupp einer HJ-Division zusammen mit Flüchtlingen aus Ansbach eingetroffen, anderes Kriegsvolk kam und ging. Schrecklich, dieser HJ-Haufen. Knaben von sechzehn, fünfzehn, noch jüngere und ganz kindliche dazwischen, in Uniform, über dem Rucksack ein Cape in sackbrauner oder fliegerbunter Farbe; die sollen mit der Panzerfaust kämpfen. Unter ihnen in Zivil, was man an Jungen, richtiger: Kindern aus Ansbach mitgenommen hat. Einige Erwachsene als Führer. In der Wirtsstube Kinderbetten auf Bänken hergerichtet.
27. April, Freitag, vierzehn Uhr
    Gestern gegen Abend im Wald von irgendwoher Schüsse der verwilderten HJ, die Kugel klatschte in einen Baum am Wege. Ein Soldat brüllte: »Aufhören, ihr saublöden Hunde!«, aber das Schießen ging weiter. So hätte man für Führer und Volk den Heldentod sterben können. Entrüstung im Dorf über diese Kindersoldateska allgemein.
    Heute vormittag in »unserm« Wald, an unserm liegenden Baumstamm großes Militärleben, zugleich modern und landsknechthaft. Fahrertruppen hatten im Freien biwakiert, da unser Dorf gestopft voll ist. Erst eine Wagengruppe, schwere Autos, wohl zwölf bis fünfzehn, unter die Bäume geschoben, ganz mit jungen Tannen über die Planen belegt, an den Seiten umstellt. Ihre Mannschaft sitzend und liegend, kochend, essend, Toilette machend; Tornister, Rucksäcke, hohe Stiefel an den Bäumen lehnend. Danach Pferdewagen, die Pferde, schwarze, braune, weiße verschiedener Größe, an improvisierte Barren gestellt, zumeist beim Fressen. Diese ganz ungewohnte, kaum noch für existent gehaltene Pferdeansammlung zwischen den hohen Kiefernstämmen! Die lagernde Truppe dazwischen! Wahrhaftig ein Gemälde aus dem Dreißigjährigen Krieg. Aber in zwanzig Schritt Entfernung die Camions, und über alledem das ewige Surren der suchenden Flieger. Und dazu das Schießen der Batterien, das Knattern der MGs. Wir sprachen mit einigen Leuten, niemand wußte Genaues, jeder nur Gerüchte, alle glaubten an und hofften auf das nahe Kriegsende.
29. April, Sonntag
    Neunzehn Uhr, Küche
    Zwischen Sturmstößen und Regengüssen Aufhellungen bei gewitterblauem Himmel; der Eingang in das Halsbacher Waldstück, Fahrweg unter hohen Stämmen auf die helle Wiese mündend, noch theatralischer als sonst. Hier kommt uns am Spätnachmittag tastend, zögernd, mißtrauisch eine Gruppe von drei jungen deutschen Soldaten, alle in Fliegerdeckungs-Umhängen,ohne Gewehr entgegen. Einer hat eine Landkarte, alle drei haben gute Gesichter, fraglos aus guter Familie, vielleicht Studenten. Sie sind aus Ingolstadt noch gerade hinausgekommen, sie möchten in der Richtung auf Landsberg durch, sie möchten nicht gefangen werden. Ob »der Amerikaner« im Dorf sei. Nein – aber in Kühbach, wohl auch in Aichach … Sie sollten doch sehen, sich Zivil zu verschaffen, der Krieg sei ja doch fast zu Ende. »Wir haben es überall versucht, überall umsonst.« – »Wir«, sagt Eva, »besitzen nur noch, was wir am Leibe haben, wir können Ihnen nicht helfen.« Wir verweisen sie an den Ortsbauernführer, aber er werde Angst haben.
    Die geduckten und hilflosen drei Soldaten waren wie eine Allegorie des verlorenen Krieges. Und so leidenschaftlich wir den Verlust des Krieges ersehnt haben, und so notwendig dieser Verlust für Deutschland ist (und wahrhaftig für die Menschheit) – die Jungen taten uns doch leid.
3. Mai, Donnerstag Vierzehn Uhr
    Eva hat mein Tagebuch nachgelesen und moniert, der eigentliche Höhepunkt am 28. 4. sei von mir nicht genügend betont worden. Sie meint den Moment, wo wir am Vormittag lesend in unserer Dachkammer saßen. Plötzlich ging das schon gewohnte Geschützfeuer in ganz nahes Krachen und in das Knallen einzelner Schüsse über, Eva hörte auch das Pfeifen einer Kugel – offenbar wurde nun an unserem Waldrand, vor unserem Dorf, unserer Ecke gekämpft. Wir eilten hinunter, das Haus stand leer, man war schon im Bunker, man hatte uns vergessen. Wir standen und saßen eine ganze Weile in eine Küchenecke gedrückt, die uns die sicherste schien. Allmählich ließ das Schießen nach und wuchs der Mut.

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