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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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so krampfhaft jede mögliche Stunde darangesetzt, daß ich alles andere zurückdrängte. Es war ein Zustand der Besessenheit und Erschöpfung; auch wenn ich notgedrungen mit anderm beschäftigt war, hielt diese Besessenheit an. Bis in den März wird nun Maschinenschreiben und Feilen dauern. Aber das Buch ist fertig und ist wohl auch gut. Freilich – wer wird es drucken? Es dürfte 500 Druckseiten haben. –
    Ich setze gleich als zweiten Hauptpunkt den Tod unseres Nikkelchens hierher, der mir wirklich nahe ging wie der Tod eines sehr lieben Menschen und mir all die »diesbezüglichen« bitteren Fragen aufsteigen ließ und mich auch heute noch damit verfolgt. Das Tier, freundlich gegen mich und jeden, hing mit einer rührend leidenschaftlichen Zärtlichkeit an Eva. Es dämmerte die letzten zehn, zwölf Tage in halber, auch ganzer Bewußtlosigkeit; wenn Eva es aufhob und vor sich auf den Tisch legte, kam es ein wenig zu sich und schmiegte sich an sie. Die letzten Wochen war es sehr unreinlich, das Musikzimmer, in dem wir es hielten roch gräßlich, sah gräßlich aus; aber wir dachten immer, das Katerchen werde sich erholen. Wir brachten es am 9. 12. zu Dr. Groß, es lag schon ganz still in seiner Kiste. Dort wurde es noch einmal untersucht, bekam dann eine Blausäurespritze. – Sentimental? Aber wo ist der Unterschied dem Sterben eines Menschen gegenüber? – Nickelchen war uns als winziges Baby am 31. Juli 32 (Tagebuch 7. 8. 32) zugelaufen. –
    Sehr bitter war die Regelung meiner »Ruhestandsbezüge«. Der Schaufensterparagraph der mit vollem Gehalt zu entlassenden jüdischen Frontkämpfer wurde nicht angewendet – er ist für das Ausland da, ist Lüge, wie alles und jedes Tun dieser Regierung –, auch nicht die Emeritierung, sondern der Überflüssigkeitsparagraph 6. Man errechnete 61 Prozent und zahlte mir auf die 480 »vorläufigen« Mark im Monat für 6 Monate 59 M nach. Ich muß also mit etwa 490 M auskommen. Andere leben mit weniger Geld, und es wird gehen, aber es ist um so bitterer,als wir uns doch etliche Wochen in Hoffnung auf das volle Gehalt wiegten. Diese Geldsache soll uns aber auf keinen Fall zur Verzweiflung bringen.
    Die trügerische Hoffnung hatte eine sehr reale Folge. Wir hatten so oft vom Autofahren gesprochen, Evas Gehemmtheit im Gehen, die schlechte Geldlage dazu, die uns mit Autodroschken sparen, an Reisen nicht denken läßt, Autos ringsum, die kleinen Leute in unseren neuen Straßen haben beinahe jeder ihre Garage, freilich sind es Geschäftsleute – kurzum: Ich meldete mich bei Strobach zu einem Fahrkurs an, zahlte 60 M für 12 Stunden, und begann am 22. 11. nach zwei Theoriestunden zu fahren. Erst ging es zum Verzweifeln schlecht, ich kam völlig zerschlagen und durchnäßt nach Hause, dann viel besser – Höhepunkt des Stolzes: eine Fahrt durch die ganze Stadt (ohne Angstgefühl!) bis fast nach Pillnitz und zurück (Luthe, der Fahrer, Mechaniker von 40 Jahren, biederer Mann: »Sie werden doch noch ein kleener Rennfahrer, Herr Professor!«), und eine Kleinfahrt hier oben mit Eva im Wagen (wenige Minuten), zuletzt wieder verzweiflungsvoll (»Ich weiß nicht, Herr Professor, Sie geben immer Gas, wenn Sie es wegnehmen müssen, Sie fahren in jedes Hindernis hinein, Sie können nicht lenken« … etc. etc.). Schuld an diesem Rückfall trug a) der Fehler Luthes, mich die ganze Stunde durchs Gewirr der Innenstadt zu jagen, Biegung um Biegung, was mich furchtbar ermüdete, b) die Depression der Geldsache. – Der Kurs endete, ohne daß ich in die Prüfung gehen konnte, kurz vor Weihnachten. Dann kam der Trotz über mich. Auch hörte ich von verschiedenster Seite, daß die Prüfung nicht sonderlich schwer sei und daß niemand im Anfang wirklich sicher in der City fahre, daß man nach erworbenem Führerschein erst lange für sich übe – verschiedenste Seite, id est: Isakowitze, Zimmermann Lange, Fuhrmann, Schlackelieferant etc., Fischer, Kaufmann Vogel … Auch fühle ich bei innerer Selbstprüfung, daß das ursprüngliche Angstgefühl eigentlich fort ist. So bin ich dieser Tage zu Strobach gegangen (das DKW-Geschäft in der Sidonienstraße, die große Werkstatt, von der aus wir fuhren, ist in derPolierstraße) und habe mich für einen zweiten Kurs angemeldet, diesmal für 40 M. Er soll spätestens nächsten Montag beginnen, und nach diesem zweiten Kurs will ich – ich will und muß! – in die Prüfung. Und wenn ich den Führerschein bekomme, so will ich Geld von der Lebensversicherung

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