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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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schluckt das fait accompli. Ergebnis: Hitlers Regiment ist stabiler als je. Was hilft es, daß man sagt, die Reichswehr regiere. In allen Punkten der Kulturvernichtung, Judenhetze, inneren Tyrannei regiert Hitler mit immer schlimmeren Kreaturen. Der Reichskultusminister Rust hielt heute wieder eine Erziehungsrede gegen »faden Intellektualismus«.
    Ich kann mich schlecht von der Grippe erholen, meinem Herzen fällt alles schwer. –
3. April, Mittwoch abend
    Inzwischen mußte ich Montag, den 1. April, mein Kolleg beginnen, obschon die Leute vom PI erst am 24. 4. anfangen. Es kam zum Französischen ein Student, der nach acht Leipziger Semestern vor dem Staatsexamen ein Semester hier bei seinen Eltern sein will. Für ihn die ganzen vier Montagsstunden.
17. April
    An den verschiedensten Straßenecken hängt der »Stürmer« aus; er hat besondere Anschlagtafeln, und jede trägt eine große Inschrift: »Die Juden sind unser Unglück.« Oder: »Wer den Juden kennt, kennt den Teufel.« Usw. – Als neulich in Kowno deutsche Fememörder zum Tode verurteilt wurden, gab es überall Protestversammlungen. Der Dölzschener Gruppen-Aufruf hieß: »Die Welt muß sehen, daß uns die internationale Juden-Kanaille nicht zum Krieg provozieren kann, wohl aber, daß wir sind ›ein einzig (sic!) Volk von Brüdern!‹« –
    Man schickt mir regelmäßig das Katzenblatt zu, obwohl ich als Nichtarier … und immer wieder zurücksende. Hier tobt sich der Nationalsozialismus in geradezu unglaublich grotesker Weise aus. Die »deutsche Katze«:/: ausländische »Edel«-Katzen. Im Sinn unseres Führers usw. Schon die Faschingsnummer der »Münchener NN« hat darüber gespottet. –
2. Mai, Donnerstag
    Am Dienstagmorgen, ohne alle vorherige Ankündigung – mit der Post zugestellt zwei Blätter: a) Ich habe auf Grund von § 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums … Ihre Entlassung vorgeschlagen. Entlassungsurkunde anbei. Der kommissarische Leiter des Ministeriums für Volksbildung. b) »Im Namen des Reiches« die Urkunde selber, unterzeichnet mit einer Kinderhandschrift: Martin Mutschmann. Ich telefonierte die Hochschule an; dort hatte man keine Ahnung. Göpfert, der Kommissar, gibt sich nicht damit ab, das Rektorat um Rat zu fragen. Erst war mir abwechselnd ein bißchen betäubt und leichtromantisch zumut; jetzt ist nur die Bitterkeit und Trostlosigkeit fühlbar.
    Meine Lage wird eine überschwere. Bis Ende Juli soll ich noch das Gehalt bekommen, die 800 M, mit denen ich mich so quäle, und danach eine Pension, die etwa 400 betragen wird.
    Ich ging am Dienstag nachmittag zu Blumenfeld, der inzwischen den Ruf nach Lima endgiltig erhalten hat, und ließ mir die Adresse der Hilfsstellen geben. Mittwoch, am »Festtag der nationalen Arbeit«, in den es hineinschneite, korrespondierte ich stundenlang. Drei gleichlautende Briefe an die »Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland«, Zürich, an den »Academic Assistance Council«, London, an das »Emergency Committee in aid of German Scholars«, New York City. Dazu Hilferufe (»SOS« schrieb ich) an Dember in Istanbul und an Vossler: Spitzer geht von Konstantinopel nach USA (aber er hat sich zu Dember wenig freundlich über mich geäußert). Überall betone ich, daß ich auch deutsche Literatur, auch vergleichende Literatur lesen könne (Mein Lektorat in Neapel, meine Vertretung Walzels bei den Prüfungen usw.), daß ich in französischer und italienischer Sprache sogleich (!), in spanischer Sprache in kurzem (!) vortragen könnte, daß ich das Englische »lese« und in ein paar Monaten nötigenfalls auch sprechen würde.
    Aber was hilft all diese Geschäftigkeit? Einmal ist die Aussicht auf einen Posten ganz gering, da ja der deutsche Run seit reichlichen zwei Jahren im Gang und unbeliebt ist. Sodann und vor allem: Welchen Posten könnte ich annehmen? Eva, die in der letzten Zeit wieder viel leidend war – erneute Zahnbehandlung, Wurzelentzündung, allgemeiner Nervenstreik –, wäre ihrer Erklärung nach und auch faktisch in jeder Pension oder möblierter oder Stadtwohnung eine Gefangene; sie braucht Haus und Garten. Und sie würde das Haus hier um keinen Preis dauernd aufgeben. Es könnte also nur ein besonders gut dotierter Posten sein, den ich anzunehmen vermöchte. Die Chance ist nicht größer als die aufs große Los, wenn man Lotterie spielt.
    Nun schrieb ich noch, sehr schweren Herzens, an Georg, dermir im vorigen Jahr Hilfe anbot und der jetzt wahrscheinlich in

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